Nico Harmsen sah verwirrt auf die neueste E-Mail in seinem Postfach: „Sorgen Sie dafür, dass man die sieben Schwestern wieder sieht, sonst werden Sie Ihre Schwester nie wiedersehen!“
Er griff zu seinem Handy, schrieb Mira eine Nachricht: „Geht’s dir gut? Soll das ein Witz sein?“
Lange starrte er den Bildschirm an, keine Antwort. Sein Blick schweifte von seinem Schreibtisch, durch die Fensterfront des Bürgermeisterbüros, hinaus auf das Lichtermeer Bremens, das im Nieselregen verschwamm. Unten auf dem Marktplatz wurden gerade die Buden für den Weihnachtsmarkt aufgebaut und bunte Lichterketten montiert. Wer waren diese sieben Schwestern? Er kannte niemanden, der heute noch so eine große Familie hatte.
Auch auf einen Anruf reagierte Mira nicht. Er sah sich die merkwürdige E-Mail näher an, dark-sky@gmail.com. Eine Allerweltsadresse, die ihren Urheber nicht preisgab.
Er hatte Mira vor über vier Wochen zuletzt gesehen, vor ihrem Urlaub in Namibia. Seine kleine Schwester war seit dem Tod ihrer Eltern die einzige Familie, die er noch hatte. Seine Hände begannen zu zittern.
Seit seinem Amtsantritt hatte er einiges an merkwürdigen E-Mails bekommen, Spinner, die ihren Frust an ihm ausließen – über alles, was ihrer Meinung nach schlecht lief in der Hansestadt, Wehklagen, dumme Witze und echte Wut. Davon würde er sich nicht aus der Ruhe bringen lassen, auch wenn Mira mal einen Abend lang nicht erreichbar war. Er trank seinen Kaffee aus und griff zur Maus. Die Mail landete im Papierkorb, Nico Harmsen machte Feierabend und fuhr nach Hause.
Am nächsten Morgen hatte Mira sich noch immer nicht gemeldet. Dafür gab es eine neue Mail: „Sie scheinen uns nicht verstehen zu wollen. Schauen Sie heute Abend um 10 Uhr nach Osten in den Himmel und Sie werden sehen, was wir meinen. Oder besser: Sie werden es nicht sehen!“
Nico wurde flau. Mira hatte einen anderen Nachnamen als er, die Öffentlichkeit wusste nicht, dass er überhaupt eine Schwester hatte.
In der Mittagspause sagte er seine Termine für den Nachmittag ab und fuhr zu Miras Wohnung. Klingelte einmal, dann noch einmal. Niemand reagierte. Der Weserkurier steckte noch im Briefkasten.
Er wollte es nicht tun. Wenn man einmal auf ihr Spiel einging, hatten sie einen. Dennoch antwortete er auf die E-Mail: „Wer sind Sie? Was wollen Sie? Ihre Drohung kann rechtliche Konsequenzen haben.“
Am Abend hielt er es nicht mehr aus. Er arbeitete sich durch stapelweise Unterlagen, um die Zeit bis zehn zu überbrücken. Es war ein wolkenloser Abend, als er an das kleine Fenster im obersten Stock des Rathausgiebels trat und hinab auf den Domshof sah.
Der Mond war noch nicht aufgegangen. Oder war Neumond? Er hatte sich nie viel für den Nachthimmel interessiert. Wenn Mira jetzt hier wäre, könnte sie ihm sicher weiterhelfen. Sie kannte sich aus.
„Weißt du eigentlich, was mein Name auf Spanisch bedeutet?“, hatte sie einmal gefragt und die Frage sofort selbst beantwortet: „Schau hin!“ Er fragte sich, warum er sich jetzt an dieses Detail erinnerte. „Verdammt, Mira, wo soll ich denn hinschauen?“, murmelte er leise, während er nach Osten in den Himmel starrte. Er sah … nichts. Ein paar vereinzelte Sterne. Was hatte er denn auch erwartet? Dass Mira zu ihm herabgeschwebt käme wie eine fliegende Untertasse?
Unten im Büro blinkte eine neue E-Mail: „Haben Sie nun gemerkt, dass Merope Ihnen fehlt? Oder sollten wir besser ‘Mira’ sagen?“
Ihm stockte der Atem. Das war kein Zufall mehr, der Name zerstörte alle Zweifel. Ein Spinner – vielleicht, aber einer, der mehr wusste, als Nico lieb war.
Er öffnete einen Webbrowser, tippte den Namen „Merope“ ein. Bilder von Sternen tauchten auf: die Plejaden. Er erinnerte sich, wie Mira und er als Kinder in lauen Sommernächten im Garten unter dem Sternenhimmel gelegen hatten. Damals hatten sie Hunderte von Sternen gesehen. Er spähte nochmal aus seinem Fenster. Jetzt sah er vielleicht zehn oder elf.
Die Plejaden mussten wohl auch dabei gewesen sein. Ein Sternhaufen aus ungefähr sieben sichtbaren Einzelsternen – das waren also die sieben Schwestern. Merope war eine davon, ein unscheinbarer Punkt, oft übersehen, manchmal unsichtbar. „Die verlorene Schwester“, nannte Wikipedia sie. Sie war immer da. Nur eben zu lichtschwach. Oder die Welt war zu hell geworden, um sie noch zu sehen.
Auch am nächsten Tag blieb seine Schwester verschwunden. Er gab die E-Mail an seine Rechtsabteilung, man werde sich kümmern. Als am Abend der Weihnachtsmarkt eröffnet wurde, saß er noch immer an seinem Schreibtisch, als würde er auf ein weiteres Zeichen der Spinner warten.
Plötzlich ging draußen das Licht aus, der Weihnachtsmarkt lag im Dunkeln, auch das Rathaus und die umliegenden Gebäude waren nicht mehr angestrahlt, nur die Straßenlaternen brannten weiter.
Eine neue E-Mail ploppte auf: „Das war erst der Anfang. #LichtAusFürMerope.“
Ohne genau zu wissen, warum, schlich er wieder zum Giebelfenster und starrte gen Osten. Vielleicht lag es daran, dass er nun wusste, wonach er suchte, denn er sah einen blass glitzernden Lichtfleck. Das mussten die Plejaden sein. Und da sollte man sieben Sterne erkennen können? Was für ein Unfug!
Schon vor Jahren hatte Mira sich über die Lichtverschmutzung beklagt. Sie hatte ihm einmal einen Vortrag von irgendeinem Umweltverband geschickt. Damals hatte er sie ausgelacht. „Romantischer Quatsch“, hatte er gesagt. Und sie hatte nur leise gelächelt. „Irgendwann wirst du es verstehen, großer Bruder.“
Er begann zu googlen, stieß schließlich auf eine Karte: Lichtverschmutzung in Mitteleuropa. Dunkle Orte in Deutschland: Die Rhön, die Eifel, die Nordseeinseln. Bremen war tiefrot eingefärbt, fast nur noch übertroffen von Hamburg und Belgien mit seinen beleuchteten Autobahnen.
Draußen ging das Licht wieder an, das Technikteam war erfolgreich gewesen. Der Weihnachtsmarkt erstrahlte in hellem Lichterschein, der die Nacht verschluckte.
Keine neue Mail, kein Lebenszeichen von Mira.
Was hatte in der E-Mail gestanden? #LichtAusFürMerope. Er suchte auf Instagram, das Rathaus hatte einen offiziellen Account. Er fand Fotos. Menschen fotografierten den Himmel über Bremen. Ein Himmel ohne Sterne. Und forderten Dunkelheit für Merope. Er leitete auch diese Beiträge an die Rechtsabteilung weiter.
Am nächsten Abend gab es erhöhte Polizeipräsenz auf dem Marktplatz. Das Weihnachtsgeschäft sollte nicht gestört werden. Nico Harmsen starrte abwechselnd aus dem Fenster und dann wieder mit einer Mischung aus Angst, Wut und Hoffnung auf seine Mailbox. Um Punkt zehn Uhr erlosch erneut die Weihnachtsmarktbeleuchtung. Auf der gegenüberliegenden Schütting-Fassade flackerte ein paar Sekunden lang eine mannshohe Projektion: #LichtAusFürMerope. Ironisch eigentlich – ausgerechnet mit gleißendem Licht. Es war das letzte, bevor der Platz vollständig dunkel wurde.
Neue Postings erschienen online unter demselben Hashtag. An einem Beitrag blieb er hängen: eine junge Frau stand nachts in einem Sommerkleid auf einer roten Düne unter einem schier unendlichen Sternenhimmel. Nico sah genauer hin. Mira. Das Bild musste bei ihrem Afrikaurlaub in der Namib entstanden sein. „Dunkelheit ist ein Menschenrecht. Wir fordern, dass es auch bei uns nachts wieder so aussieht! Sonst wird Mira in der Wüste bleiben.“ Wo war seine kleine Schwester jetzt? Woher hatten sie diese Aufnahme? Er schaute sie nochmal an. Sehnsuchtsvoll. Und wusste selbst nicht, ob er sich mehr nach Mira oder nach dem Naturschauspiel über ihr sehnte.
Am nächsten Morgen war das Dilemma nicht mehr zu übersehen: Die Lokalnachrichten berichteten über den Vorfall, die Rathauspresse drängte auf eine Stellungnahme. Auf Instagram forderten Aktivist:innen ein neues Lichtkonzept für Bremen. Radio Bremen hatte eine Ökologieprofessorin ins Studio geladen, die von verwirrten Vögeln, wachgehaltenen Menschen und dem Verschwinden der Sterne sprach. Sogar der Wettermann beendete seinen Beitrag mit einem breiten Grinsen, als er „Und nun: Licht aus für Merope“ sagte.
Nico fuhr sich nervös durch die Haare. Was sollte er tun? Er konnte doch nicht den namibischen Nachthimmel über Bremen zaubern, so majestätisch er auch war. Wie stellten die sich das vor?
Als ob sie ihn gehört hätten, ging am Abend ein neues Posting viral. Sein Gesicht – das offizielle Rathaus-Porträt. Darunter die Frage: „Soll der Bürgermeister das Licht ausschalten? Dann liked diesen Beitrag und teilt ihn in eurer Story! Wir fordern ein neues Beleuchtungskonzept für Bremen und eine Nacht der völligen Dunkelheit. Damit wir wieder wissen, was wir verloren haben. #LichtAusFürMerope“
Nico Harmsen fluchte leise. Er wollte nicht. Nicht so. Er wusste sehr gut, was er verloren hatte. Oder könnte er sich ein Zeichen des guten Willens erlauben? Wegen Mira? Seine Verkehrssenatorin zog die Augenbrauen hoch, der Umweltsenator war unentschlossen, die Rechtsabteilung skeptisch. Man dürfe sich nicht erpressbar machen. Sein Bürgermeister-Ich stimmte zu. Der große Bruder von Mira war weniger standhaft. Er dachte wieder an die Augustnächte auf der Wiese im Garten, die Sternschnuppen, das Zirpen der Grillen, das duftende Gras. Wozu war er denn Bürgermeister geworden, wenn ihm nicht mal diese Entscheidungsgewalt zustand?
Er überging seine Presseabteilung und setzte selbst den Instagram-Post ab. Man brauche drei Tage Zeit, um auf die Forderungen einzugehen, und wenn seine Schwester dann nicht zurückkäme, würde die Polizei aktiv.
Sein Team wäre am nächsten Morgen sicher nicht erfreut, aber das war ihm egal.
In den folgenden drei Tagen arbeiteten Stadtplanung und Umweltdezernat hektisch. Dann war es soweit. Bürgermeister Harmsen verlas am Abend im Live-Stream den ersten Entwurf für das neue Lichtkonzept. Als er geendet hatte, glaubte er fast, ein sanftes Klicken zu hören. Dann war es dunkel. Feierlich löschte er auch das Licht auf seinem Schreibtisch und beendete die Übertragung.
Dann stieg er wieder hinauf in den Dachgiebel und öffnete das Fenster. Sein Atem gefror. Die Stadt war dunkel, aber über ihm breitete sich ein Nachthimmel, wie er ihn zuletzt in seiner Kindheit gesehen hatte, auf der Picknickdecke neben Mira. „Schau hin“ schien sie ihm wieder zuzurufen. Vielleicht hatte er schon zu lange nicht mehr hingesehen, auf das, was zählte. Glitzernde Sterne an einem schwarzen Himmel, von einem Ende des Horizonts zum anderen. Ein überirdisches Funkeln am wolkenlosen Firmament. Er kam sich sehr klein und gleichzeitig unendlich geborgen vor in diesem Moment. War nicht mehr der Bürgermeister von Bremen, sondern der kleine, staunende Junge, alleine mit dem Weltall. Nico lächelte.
Dann wanderte sein Blick nach Osten, hinauf zu den Plejaden. Er zählte, zählte noch einmal. Erst fünf, dann sechs. Verdammt! Es waren nur sechs Sterne in der dunklen Winternacht. Trotz allem. Sein Lächeln erstarb.
Sie hatten ihn gelinkt. Die siebte Schwester blieb verschwunden.
Auf einmal berührte eine Hand seine Schulter und er hörte eine vertraute Stimme: “Man kann sie fast nie sehen. Aber jetzt wissen wir zumindest, dass sie noch da ist.”
„Mira!“
Er hörte ein leises Lachen.
„Danke, dass du es getan hast, Nico. Du hast endlich hingeschaut.“
Seine verspannten Schultern entkrampften sich wieder.
Merope war immer noch unsichtbar.
Doch Mira war zurückgekehrt.
Rea Sommer, Juni 2025
Kurzvita
Rea Sommer ist im Saarland aufgewachsen und hat schon als Kind im Sommer nachts auf der Terrasse gelegen und den Perseiden aufgelauert. Bei Reisen durch die Wüsten Namibias, die ostafrikanische Savanne und die Bergwelt in Marokko hat sie die Schönheit eines dunklen Nachthimmels schätzen gelernt. Lange hat sie im Ruhrgebiet gelebt, wo es selbst dann nicht wirklich dunkel wird, wenn man im Winter um drei Uhr nachts noch am Schreibtisch sitzt. Heute schreibt sie von der Ostseeküste aus – und weiß die Dunkelheit wieder neu zu würdigen.
Rea Sommer hat mir ihrer Kurzgeschichte „Licht aus für Merope“ unseren Kurzgeschichtenwettbewerb 2024/2025 mit einen Sonderpreis gewonnen.
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