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Im Universum ist keine Angst

Ich bin in Dresden geboren – an einem heißen Sommertag im Juli – früh ehe die Sonne
aufging. „Komm mit nach Dresden“, hat meine Großmutter gesagt, „da wohnt Churchills
Großmutter, da passiert nichts.“ Sie war extra nach Bremen gekommen, um ihrer Tochter bei der
Geburt beizustehen – aber in Bremen fielen nachts Bomben auf Dächer von Wohnhäuser. „Komm
mit nach Dresden ..!“ Der Zug war am 1. Juli gedrängt voll, blieb stehen, immer wieder blieb er
stehen. Bei jedem Halt kam der Schaffner: „Geht es noch, junge Frau?“ Am 4. Juli 1942 wurde ich
geboren in einer kleinen Klinik in der Liebigstraße.

Heute ist der 23. Februar 2023. Heute ist alles anders – nicht Churchills Großmutter, nur ich:
Großmutter. Keine Bomben – hier. Frieden. Demokratie. Meinungsfreiheit. Haben wir doch! Oder
haben die Genossen ein Schloss vor dem Mund und werden gar nicht gefragt, wenn Papa Scholz
seine Marder in die Ukraine schickt? Also, wir Genossen von Schönebeck treffen uns heute – ich
will in kleinem Kreis sprechen über Meinungsfreiheit: Warum wurde am 14. Februar über meinen
Antrag zu ‚Meinungsfreiheit‘ nicht abgestimmt? Warum wurde die Begründung zu meinem Antrag
nicht für alle ausgedruckt? Meinungsfreiheit – haben wir doch! Ich werde doch gar nicht von der
Gestapo abgeholt, wenn ich darüber sprechen will – mit den Genossen!

Ich mache mich zu Fuß auf den Weg zur Schlosskate – da treffen wir uns – welche Meinung
habt ihr eigentlich zu den Waffenlieferungen in die Ukraine? – darüber denke ich nach auf dem
Fußweg: erst Fährgrund, dann Borchshöhe. Es ist kalt. Die Welt ist schwarz – nur irgendwo über
den Straßenlaternen, weit weg, leuchtet die Mondsichel wie eine einsame Straßenlaterne. Aber ich
habe mich im Datum geirrt, heute ist gar kein Treffen. Die Schlosskate ist dunkel. Erleichterung, ich
muss heute gar nicht streiten!

Ich gehe weiter – vorbei am Schönebecker Schloss. Die Welt ist hier licht ohne Straßenlaternen,
der Weg ist hell. Vor mir begleitet mein Schatten mich schwarz. Über mir – weit oben –
schwimmt der Mond in der Tiefe des Universums – unendliches Blau, besetzt mit Diamanten, mit
Sternen – nur wenige setzen sich durch gegen das goldene Halbrund Mond. Der beleuchtet Schloss,
Erde und Himmel, der Weg hell wie das Wasser, darüber zieht der Große Wagen sehr blass seine
Bahn – so wie gelegentlich winzige Lichtpunkte, Autoscheinwerfer hinter den Waldbäumen auf der
Straße nach Leuchtenburg.

Mir fällt ein – eine Sommernacht in der Provence – Sterne – vollkommen – unendlich viele
– Diamanten – blass leuchtende Perlen – große und kleine – ich liege im warmen Gras, ich höre
Zirpen, Zikaden – wie weit – unfassbar – Himmel und Erde – ich staune …

Es ist kalt. Mein Mantel hält mich wohl warm, aber ich will nach Hause. Ich zweige ab über
die Brücke – nun wandert mein Schatten über die Schattenzweige zu meinen Füßen auf
mondhellem Weg, Baumstämme steigen neben mir bis in winterlich blattloses Gezweig vor
leuchtendem Himmel – unendlich tief – blau. Dann Häuser. Erleuchtete Fenster – die Welt ist
wieder eng geworden und dunkel und hört auf in der Höhe von Straßenlaternen. Auf dem
Ziegenweg blendet mich ein Autoscheinwerfer.

Als ich 2014 nach Vegesack zog, nähte ich blickdichte Vorhänge für meine Fenster wegen
der Straßenlampen vom Fährgrund. Nachts will ich ruhig schlafen. Nachts fahren nur wenige Autos
– ihr Laut wird fast geschluckt von den Dreifach-Fenstergläsern. Eigentlich wollte ich auf keinen
Fall eine Straße vorm Fenster! Aber die Wohnung sprach zu mir, wurde mein Raum, trotz Straße.
Man gewöhnt sich an alles. Ich schlafe gut und lange. Einmal wache ich auf von einem Plopp –
Plopp – immer wieder, das dauert – ich neugierig: drüben landet mit Plopp ein Karton nach dem
anderen aus einem Lastwagen auf dem Fahrradweg. Gespenster zieht ein Afrikaner aus den Kästen,
nämlich wehende Plastik-Fahnen, die knüllt er zusammen. Was passiert da? Schnell ziehe ich mich
an, komme gerade rechtzeitig, um zu fotografieren, wie der aus Albanien die Leiter von seinem
blauen Leiter-Wagen hochkurbelt zur Straßenlaterne. Er spricht gut deutsch. Er lädt mich ein zum
Gottesdienst nach Woltmershausen, jeden Freitag, er will mich sogar mit dem Auto abholen. Ich
schreibe mir seine Handynummer auf, aber ich verspreche nichts. Tatsächlich benutze ich sie nie,
sehe auch nicht die www.Adresse von dem Afrikaner an – es gibt einfach zu viele interessante
Menschen hier mit Heimat weit weg. „Wir tauschen die Straßenlaternen aus“, erklären sie mir, „Sie
bekommen nun LED-Lampen, nachts taghell!“ Ich sage: „Das will ich gar nicht! Ich will doch
nachts schlafen!“ Tatsächlich haben die Scheinwerfer, die sie aus den Plastik-Gespenstern
entwickelt haben, das Plopp-Plopp-Werfen heil überstanden und beleuchten die Straße Fährgrund
seitdem deutlich weniger hell als ihre Vorgänger – beruhigend.

Aber wenn ich abends auf meiner Terrasse nach den Sternen sehe, muss ich mich vorsichtig
bewegen. Sonst springt der Bewegungsmelder an und schluckt alles, was der Lichtsmog über der
Stadt noch erscheinen lässt. Manchmal bewegt sich ein Stern ganz schnell über den Himmel, das ist
dann die ISS, ein künstlicher Stern, Menschen-gemacht, Fussballfeld-groß. Wenn ein Astronaut nach
einem halben Jahr Schwerelosigkeit ausgetauscht worden ist, lächelt er in die Kamera – glücklich
für die Pressefotografen – vom Tragesessel aus, mit dem er programmgemäß nun ins Krankenhaus
gebracht wird – wo sein Körperraum programmgemäß nun wieder justiert wird für das Dasein auf
Mutter Erde. Man kann ja alles machen. Man kann sich dabei auch ent-erden – krank werden –
macht doch nichts! – wir haben doch keine Angst!

Doch. Ich bin aus Fleisch und Blut. Ich habe Angst – vor allem wegen der Nachricht, dass
sie auf dem Mond nun suchen wollen nach Seltenen Erden – für LED – oder Handys – oder so. Wer
zuerst oben ist, der malt zuerst. Genossen, wir sind ent-erdet! Wir sind besoffen von dem, was man
machen kann! Krieg ist doch keine heilsame Entziehungskur! Der Krieg in Syrien nicht. Der Krieg
der Sterne auch nicht. Wir sind alle ent-erdet von den vergangenen Kriegen.

Übrigens, die Liebigstraße in Dresden gibt es noch – sie wurde nicht zerbombt 1945 in den
Feuernächten. Aber die kleine Klinik, in der ich zur Welt kam, habe ich 2013 nicht gefunden, nur
eine kleine Konditorei – einen Kaffee, ein Stück ganz süßen Kuchen. Bevor ich löffelte, ging meine
Seele fremd – erinnerte sich – mich – an meine Ankunft auf Mutter Erde – meine Seele ging fremd
– in einem unendlichen Sternenraum – verloren – ungeerdet – lange – ohne Angst –

Angst ist dort nicht, Angst ist verbunden mit Fleisch und Blut.
Suchen Astronauten ein Dasein ohne Angst? – schwerelos – ent-erdet? Vergeblich!

Angst war nicht in meinem Erinnern – sondern verlorenes Irren im Universum – unangesehen.
Meine Mutter hatte mich nicht angesehen, sie begrüßte mich nicht im Dasein.

Bis ich die Augen aufschlug, jetzt, 2013, in der Liebigstraße, bei Kaffee und tröstlichem Kuchen.
Ja. Meine Mutter hat mich dann doch angesehen, begrüßt, mich, das Mädchen. Nur ein Mädchen.
Nicht das Fritzchen, auf das sie sich gefreut hatte. Diese Freude ist Kraft für ein ganzes Leben – für
meinen Kampf um Meinungsfreiheit, jetzt, achtzig Jahre später. Genossen, wir können fast alles
machen. Wir können auch aufhören den enterdeten Machern zu glauben, dass sie unsere Angst im
Leben besiegen.

Wir müssen das Leben auf der Erde selbst wagen, jeder und jede für sich.
Das weite Universum ist immer da – über den Straßenlaternen, die unseren Raum einengen.

Heide Marie Voigt


Heide Marie Voigt hat mit ihrem Text “Sternenhimmel” eben falls den dritten Platz unseres MicroAmberFiction Schreibwettbewerbes gewonnen.

Die Künstlerin Isolde wanderte ziellos hinaus in die Dämmerung, sodann schlug sie den Weg zum Strand ein. Sie sah die Wolken ziehen, schmeckte die salzige Luft, hörte die ferne Brandung rauschen und die Wellen aufschlagen. Im feuchten Sand des Spülsaums zeichneten sich ihre Fußspuren ab. Einige der tiefen Fußabdrücke blieben zurück, andere verwischten die Wogen. Isolde empfand es als Spiegelbild ihres Lebens. Was würde dereinst von ihr bleiben, von ihrem künstlerischen Ausdruck? Diese tiefgründigen Gedanken beflügelten ihre Sinne. Sie wähnte sich im vollen Einklang mit ihrer Welt und gab sich den Wachträumen hin. So verlor sie sich in der Zeit.

Wind wehte von See her, fröstelnd zog sie den Jackenkragen höher. Dabei legte sie wie zufällig den Kopf in den Nacken. War sie bisher wie eine Traumwandlerin unterwegs? Wie eine Blinde? Die Nacht war hereingebrochen, sie bemerkte die Dunkelheit erst jetzt und wunderte sich angesichts des Sternenfunkelns. Mein Gott wie schön! Derart hatte sie den Nachthimmel nie erlebt, in ihrer lichtverschmutzen Großstadt.

Hier auf der Insel Juist, in der Schwärze der klaren Herbstnacht glänzte das schier grenzenlose Band der Milchstraße über ihr. Das magische Licht in voller galaktischer Prachtentfaltung zu erleben, empfand sie so majestätisch. Ihr war, als träumte sie immerzu. Dieses Bild berührte sie zutiefst. Sie kramte in ihren Erinnerungen, dort tauchte kein Zauber dieser Art auf. Wie gerne hätte sie den Geliebten an ihrer Seite, um diesen heiligen Augenblick mit ihm zu teilen.

Im Windschatten einer Düne setzte sie sich in den Sand und sah hinaus aufs Meer. Ließ das ewige Kommen und Gehen der Wellen auf sich wirken. Das Rauschen erschien ihr endlos wie der grenzenlose Nachthimmel über ihr. Ist es nicht von alters her überliefert, dass die Sternenkonstellationen für Menschenschicksale eine maßgebliche Bewandtnis haben? Der silbrige Schein des Mondes beleuchtete das Meer, reflektierte das Licht im Auf und Ab der Wogen. Ebbe und Flut, die anziehende Rolle des Erdtrabanten im kosmischen Spektakel kennen die Menschen der Meeresküsten genau.

Isolde erhob sich, klopfte den Sand aus den Kleidern. Ein letzter Blick noch in den Sternenhimmel. In jenem Augenblick bedauerte sie es, dass sie von Sternenkunde keine Ahnung hatte. Sie schob diesen Gedanken beiseite und überlegte, wie es ihr gelänge, die magisch einsame Nacht am Strand künstlerisch umzusetzen. Und überhaupt, hatte sie nicht eben herausgefunden, was das »Zauberland« ausmacht? Sie hatte ein Stückchen vom geheimnisvollen alten »Töwerland« erlebt!

Reingard Stein, 11. April 2023


Reingard Stein hat mit ihrem Text “Töwerland – Zaubernacht” den dritten Platz unseres MicroAmberFiction Schreibwettbewerbes gewonnen.

Atemlose Stille durchdrang die weite unendliche Landschaft.

Mein Atem gefror zu Eis.

Ich stand unter einem über und über funkelndem Nachthimmel und betrachtete das Firmament.

Solch einen Sternenhimmel hatte ich noch nie erblickt!

Ich war wie gebannt, verzaubert….

Der reine, klare Nachthimmel über Taizé war einfach atemberaubend schön.

Keine Straßenlaterne, kein Verkehr, keine erleuchteten Fenster störten dieses unglaubliche Bild.

Tausende und abertausende, ja, wohl Millionen von Sternen weit entfernter Galaxien strahlten dicht an dicht, funkelten, flackerten, manche als kleine weiße Punkte, andere leicht bläulich oder rötlich.

Wie es im unendlichen Weltall, auf fernen Planeten wohl aussehen mag?

Und eventuell andere Lebensformen?

Gerne wäre ich jetzt mit Warpgeschwindigkeit durch den Raum geflogen oder hätte mich in fremde, unbekannte Welten bebeamt. Oder würde einen Blick durch ein riesiges Teleskop werfen. Was ich dann wohl erblicken würde?

Mein Herz wurde ganz still und ruhig, ja, ehrfürchtig über der gewaltigen Schönheit des millionenfach wie Diamanten glitzerenden Sternenhimmels.

Für immer schloss ich diesen Anblick in mein Herz ein, ein Bild für die Ewigkeit!

Die Zeit stand still.

Brigitte Schweizer 10/01/23


Brigitte Schweizer hat mit ihrem Text “Sternenhimmel über Taizé” den zweiten Platz unseres MicroAmberFiction Schreibwettbewerbes gewonnen.

Falko gähnt. Er hängt noch kopfüber in seinem Kasten. Zeit loszufliegen, denkt er sich und
streckt seine Flügel aus. Die Fledermaus streckt den Kopf aus ihrem Quartier und schaut
sich in dem Schrebergarten um. Der neue Besitzer hat alles verändert: Büsche und wilde
Sträucher mussten seinen penibel angelegten Hochbeeten weichen, abgedeckte Beete
stehen, wo vorher leckeres Unkraut blühte, junge Kirschloorbeerpflanzen säumen den
Zaun. Sie sollen bald groß und immergrün den Blick in den Garten erschweren. Am
schlimmsten aber sind die Solar-Lichterketten. An der Laube und am Rosenbogen hängen
weiße Lampignons, die sich tagsüber aufladen, um dann die ganze Nacht hindurch zu
leuchten. Falko würde am liebsten umziehen, aber es ist nicht so einfach, eine neue
Bleibe zu finden. Das neue, nächtliche Licht verwirrt ihn. Letzte Woche wollte er tagsüber
losfliegen, weil er dachte, das Licht der Sonne sei nur das Licht der Lampignons und in der
Woche davor schlief er mitten in der Nacht wieder ein, weil er dachte, es sei Tag. Auch
heute fühlt er sich nicht wirklich fit, aber er ist hungrig. Los geht’s, denkt er und versucht
sich die dickste Motte zu schnappen. Wieder blendet ihn das Licht und anstatt die Motte
zu erwischen, fliegt er mit Karacho gegen den Giebel der Gartenlaube. Bewußtlos fällt er
zu Boden.

Sogleich versammeln sich aufgeregt die nachtaktiven Tiere um ihn herum. „Ist er tot?“,
fragt der Gartenschläfer. „Nein, zum Glück nicht“, antwortet der Igel. Der Marder ballt die
Fäuste und schimpft auf den Schrebergärtner. Während der Hamster sich über Falko
beugt und seine Stirn kühlt, rufen die Waschbären entschlossen: „Wir machen das schon!“
Sogleich flitzen sie Richtung Rosenbogen und reißen im nächsten Moment die
Lampions ab. Die anderen Tiere jubeln und klatschen Beifall. „Endlich wieder unsere
dunkle Nacht!“, freuen sie sich. Auch die andere Lichterkette wird vernichtet. Nun leuchten
nur noch die glitzernden Sterne und eine schmale Mondsichel. Langsam erholt Falko sich.
Seine Stirn schmerzt, aber die wohltuende Dunkelheit umhüllt ihn beruhigend. Als die
Morgendämmerung einsetzt, ziehen sich die Tiere in ihre Verstecke zurück. Alle sind
hoffnungsvoll, dass dies ein erholsamer Tag wird und die Nächte ab jetzt wieder
nachtschwarz sein werden.

Der Schrebergärtner kommt am nächsten Tag erst gegen Abend in seinen Garten. Als es
dunkel wird, bemerkt er zum ersten Mal die Sterne am Nachthimmel. Er ist fasziniert und
legt sich in dass Gras, um besser in den Himmel gucken zu können. Was für ein Glück ich
doch habe, denkt er und schläft ein, während Falko und seine Freunde zufrieden ihre
Nacht genießen.

Nina Brünner, April 2023


Nina Brünner hat mit ihrem Text “Falkos Sturz” den ersten Platz unseres MicroAmberFiction Schreibwettbewerbes gewonnen.

Hallo liebe Freunde der Nacht.

Wenn auch mit etwas Verspätung (wir hatten ja den 13. August angekündigt) möchte ich euch mitteilen, dass die Ergebnisse des MicroAmberFiction Schreibwettbewerbes fest stehen.

Die Gewinnerinnen und Gewinner wurden bereits von uns entsprechend benachrichtigt.

Wir bedanken uns bei allen Einsenden für die Teilnahme und hoffen, dass wir auch beim nächsten mal wieder so tolle Einsendungen bekommen werden, auch wenn es nicht alle in die Endauswahl geschafft haben.

Doch jetzt genug der Worte von mir. Hier kommen die Gewinnertexte:

1. Platz: Falkos Sturz von Nina Brünner
2. Platz: Sternenhimmel über Taizé von Brigitte Schweizer
3. Platz: Töwerland – Zaubernacht von Reingard Stein
3. Platz: Sternenhimmel von Heide Marie Voigt

Wir wünschen viel Spaß beim Lesen.

Santiago de Chile – Sky Costanera – Juli 2018 – Foto: Lutz Dörpmund

Es war weit nach Vierundzwanzig Uhr. Der Lärm von bremsenden Autos und Bussen auf nassem Asphalt, anfahrenden LKWs, von lärmenden Menschen, die aus den Clubs, Theatern und Kinos kamen, ihr Lachen, ihre Schritte, ihr Rufen, krabbelte wie Trolle genauso unbarmherzig wie das künstliche Licht der nicht abgeschirmten Laternenflut der Stadt die Fassade hoch hinauf in die Räume eines Visual-Loft.

Die Lichtinstallationen an den Glaswänden der umliegenden Hochhäuser imitierten abwechselnd Wasserfälle unter einem Regenbogen und Schriftzüge weltumspannender Markendesigner von Skybeamern gezeichnet. Auch Sky Costanera leuchtete dem stellaren Lichtkunstparcour hoch über der Stadt entgegen, bereit es mit ihm aufzunehmen, gewann den ungleichen Zweikampf mit dem Himmel und weichte die astralen Strukturen zu einer pastösen Masse auf. Das Orange der Natriumdampflampen auf den Straßen der Vergangenheit musste schon vor einigen Monaten sein Haupt vor der neuen Leuchtdiodenlichtzeit neigen, löste sich auf und verschwand genau wie der Himmel – spurlos. Die Moderne unterstand jetzt dem Regime der Energieeffizienz, der großen Hure Rebound. Ganz Santiago, wie alle Großstädte der Welt, stand im Skyglowverbund der planetaren illuminierten Netzwerke und sog alles um sich herum unbarmherzig in den Lichtsmog ein.

Die Lichtfluter in Seths Visual-Loft ließen die Wände in Blau- und Rottönen erzittern. Die Fotografien von glänzenden Orten und glänzenden Menschen wurden von violetten Leuchtstreifen umrahmt. Auf dem Flur, im Bad und im Schlafzimmer waren es Grün-, Orange- und Gelbtöne, durch dezent versteckte Bodenstrahler präzis an die Decke projiziert, die sich selbstbewusst der Kakophonie des eindringenden Lichtspektakels der Stadt entgegenstellten, um zu dominieren.

Hier residierte Seth, der Farbwechsler, das Chamäleon der Moderne.

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Es war ein angenehm kühler Abend.

Es war ein normaler Tag. Er war ein normaler Mensch an einem normalen Tag.

Der Wecker hatte zuverlässig um 06:30 Uhr geklingelt. Das blaue Handtuch hing frisch immer freitags aus dem Wäschetrockner auf seiner Seite, links. Rechts war ihre Seite, das Handtuch altrosa. Der Vormittag verlief regelmäßig. Nach dem Frühstück in Begleitung des Hausfrauensenders, nur ein gekochtes Ei zu Brot, Butter und Marmelade, Erdbeere, manchmal auch Kirsche, selten, und Tageszeitung lesen, einkaufen, auf das Mittagessen warten, Mittag essen, auf den Kaffee warten, dabei das Auto waschen oder irgendwas mit Auto oder Garage, Kaffee trinken, auf das Abendbrot warten, dabei mit dem Nachbarn rechts Recht haben oder dem Nachbarn links dessen falsche Meinung klar machen, Abendbrot essen.

Nach einem langen Tag des Regelmäßigen stand er vom heimatlichen, einem karobetischdeckten Küchentisch auf und befand es befriedigend, dass dieser Teil des normalen Tages wieder mal ein Ende gefunden hatte. Wie jeden Tag.

Er schielte verstohlen auf das Magazin, das auf dem Stuhl neben ihm lag. Er sah das Bild auf der Titelseite an. Es elektrisierte ihn und er wünschte sich, das live zu erleben, direkt.

Sie mochte das nicht.

Sie sagte, dass sie es nicht gern am Küchentisch sähe.

Es störe sie.

Er wusste es.

Männersache. Sie habe keinerlei Beziehung dazu.

Er schon. 

Sie interessiere sich nun wirklich nicht für solche Dinge. Sie habe es noch nie getan und dass wisse er doch.

Er wusste es.

Außerdem mache es keinen Sinn und es würde niemandem helfen, bei all den hungernden Menschen auf dieser Welt. Und es kostete viel, zu viel Geld.

Es kostete.

Der Abend versprach angenehm erfrischend zu werden. Sie war ins Wohnzimmer gegangen, telefonierte mit einer Freundin. Er hörte es am Singsang ihrer Stimme und dem zu erwartenden Auflachen, dass er einmal an ihr erfrischend fand. Er erinnerte sich. Kurz. Der Abend war kühl und nur er war erfrischend. Nach dem Auflachen kamen normalerweise kurze Fragen mit kurzen Antworten.

Sie kamen.

Dann ein ‘Ach’, ein ‘Ja, Ja, wie immer’, ein ‘Was soll’s’.

Die Brise, die ins Zimmer kam, war erfrischend. Sie blätterte einige Seiten in der Zeitschrift um.

Er bemerkte sie.

Er griff zum Magazin, liebevoll und aufgeregt. Seine Hände waren verschwitzt, sein Daumen und zwei andere Finger hinterließen eine Art Fettfleck. Er wischte sie mit flinken Hinundherbewegungen an seiner Hose ab. Ein wenig zu groß, aus den Achtzigern. Am Bund eng, Ja, doch, schon. Er ging zur Küchentür, das Magazin unter eine Achsel geklemmt, einen Becher mit Karokaffee mit einem Löffel Zucker, nur wenig Milch, in der Hand, die zur Achsel gehörte. Also, ganz normal. Er sah sich um. Er meinte, sie bliebe zurück auf dem Küchentisch, vielleicht zwischen den Karos. Eingeklemmt? Eingedöst vor der Normalität.

Er sah sich im Türrahmen der Küche aus Eicherustikal um. Er sah sie nicht mehr.

Er ging auf den Flur. Er blieb am Türrahmen stehen und sah ins Wohnzimmer. Sie stand neben ihm. Sie sah vom Telefon auf und starrte beide an, hoffnungslos.

Er senkte die Augen. Sie drehte sich weg. Er lenkte die Schritte zur Haustür. Er ging nach draußen zu der alten Garage. Er nahm sie mit.

Die Nacht versprach wolkenfrei zu sein. Neumond. Hinter der Garage begann das Magazin ihn zu schnelleren Schritten zu bewegen. Er ging an den Mülleimern vorbei. Der Biomülleimer stand wieder nicht an seinem vorgesehenen Platz, bestimmt sechs Zentimeter. Er kam der Garage näher. Etwas erwachte. Er nannte es Passion. Sie mochte sie nicht. Konkurrenz. Er schaltete das rote Licht der Kopflampe an und sah auf das Titelblatt. Er musste seine Augen an die Dunkelheit gewöhnen. Dann schloß er mit leicht zitternden Fingern die Tür auf und betrat sein Refugium, allein. Normal.

Seine Zeit begann. Er schaltete die Stromversorgung an, betätigte mehrere Schalter in schlafwandlerischer Selbstverständlichkeit und bediente die Knöpfe der Fernbedienung. Es begann um ihn herum zu summen und ein wenig zu knarren. Vertraute Geräusche seit Anbeginn der Zeit. So fühlte er es. Die Kuppel öffnete sich lustvoll. Sie zog sich zurück, nicht erbost, abwartend.

Er dachte an die Titelseite. Das war normal. Die erfrischende Brise betrat den Innenraum. Sie wusch das muffige Aroma der letzten Regentage aus dem kreisrunden Hort seiner Passion, doch konnte sie sie nicht wegwehen. Still und stumm, alles normal. Er öffnete den Rechner, seinen schlafenden Freund im Hibernate. Er erwachte. Er auch. Stellarium erwachte auch. Die Welt leuchtete in Rot. Sein Teleskop, sein 4,5 Zoll Newton, weiß, erwartete ihn wie ein treuer Freund. Sein Weiß fand er auch damals schon erfrischend an ihm. Immer für ihn da. An seiner Seite. Wie im Schützengraben, Hingabe, Aufgabe, für ihn da sein.

‘Was Orion verbunden hat, das soll der Mensch nicht scheiden.’ stand auf einem Poster, das in all den Jahren seine Farben an sie verloren hatte. Ausgelutscht und fade. An drei Ecken war es mit rotem Klebeband an der Innenwand befestigt. Die andere Ecke rollte sich auf. Klagte ihn an.

Das erste Lächeln des heutigen Tages. Normal.

Er nahm das Magazin und tippte den Namen ab, der unter dem Foto auf der Titelseite stand. Er lächelte. War es normal? Auf dem Display bewegten sich Welten, Linien und Zahlenkolonnen, manche mit scheinbarer Lichtgeschwindigkeit. Sie poppten wie Luftblasen in einem Glas gefüllt mit Sprudel auf und rasten an ihm und seinen suchenden, hungernden Augen vorbei. Es beunruhigte ihn nicht. Es war normal.

Der Lagunennebel. 

Im Sternbild Schütze, da thronte M8, seine Welt. Ein Emissionsnebel, ein Reflexionsnebel, ein Sternentstehungsgebiet, Ja, Ja 6,0 mag, 6,0 mag. So weit entfernt. Ja, leider. So weit entfernt. Seine Vollformatkamera mit dem großen Sensor hing an seinem Teleskop, erwartungsvoll und ungeduldig. Die Welt da draußen gab es nicht. Hier war alles normal. Er war normal. Wer nicht hierher kam, nicht hierher kommen konnte oder wollte, war nicht von dieser Welt. Sollte doch bitte draußen bleiben und Briefmarken sammeln oder Seidenmalerei betreiben.

Die Fokussierung geschah von allein, seine Finger kannten die kleinsten Berührungen, die über Lichtjahre entschieden. Das Metall und die Kunststoffe, die seine Haut berührten, tasteten sich behutsam zu seiner Seele vor. Eine kurze Berührung über 5200 Lichtjahre.

Sie würde es nie verstehen.

Er schon.

In der langsamen Bewegung der Erdachse veränderte sich das Bild in der Dunkelheit. Punkte wanderten langsam, kaum merklich am Firmament seines gewählten Himmelsausschnitts entlang, über die niedrigen Baumkronen hinweg, verschwanden unter dem Horizont. Hier und da ging ein Licht an, es gingen Lichter aus, eine Katze schlich durch den Garten.

Es war eine angenehm kühle Nacht.

Es war eine normale Nacht. Er war ein normaler Mensch in einer normalen Nacht.

Nach einem langen Tag und einem langen Abend saß er auf seinem bequemen Drehstuhl, den er nach seinem Renteneintritt aus der Firma hatte mitnehmen dürfen. Das war nett. Er saß auf seinem langjährig geformten Stuhl, den alten Bekannten seines Gesäßes. Wie fast jeden Tag. Dann sah er wieder auf das Bild der Titelseite. Wie gemein perfekt. So oft hatte er es schon probiert. Jahr für Jahr. Der erste Lagunennebel dieses Jahres.

Wo da wohl ein Unterschied sei, hatte sie ihn gefragt. Letztes Jahr hatte sie sich herabgelassen, einen gelangweilten Blick auf drei seiner bearbeiteten Fotos zu werfen. Immer dasselbe. Sie verstehe das nicht. Da ändere sich doch nichts.

Heute sein erster Lagunennebel in diesem Jahr. Er hatte Verbesserungen an seinem langjährigen Begleiter vorgenommen. Das Teleskoptreffen, neue Ideen, und auch Neid. Neue Begierden. Er sah wieder auf das Titelbild.

Er ließ die stellare Maschinerie ihr Werk beginnen und wartete. Er könnte ins Haus gehen und ein wenig schlafen. Sein Freund würde auch ohne ihn weiter arbeiten. Treuer, zuverlässiger Freund eben. Doch er saß. Er saß und trank einen Schluck Kaffee. Eine Spinne kletterte über sein rechtes Bein. Es kitzelte. Er saß. Er starrte in die Dunkelheit. Es war ganz normal. Noch zwei Nächte und dann stacken. Facetten des Lebens übereinanderlegen. Das ging im normalen Leben nicht. Ach. Wirklich. Wie schade.

Leise arbeitete sein Freund. Er fing Facetten aus der Vergangenheit auf, um Gleichzeitigkeit zu erschaffen. Irreal. Er saß. Er schaute auf den Tubus. Er meinte, Karos zu sehen. Er kratzte sich am Arm. Die alte Stelle ging immer wieder auf. Lästig. Wieder Schorf. Er saß. Die Stirnlampe rutschte leicht. Er rückte sie zurück. Sie rutschte wieder. Er atmete entnervt tief aus.

Die erfrischende Luft streifte seine Wangen. Sie hinterließ eine kleine Spur Feuchtigkeit, die ihn zwischen den Bartstoppeln kitzelte.

Er wischte sie weg, an seiner Hose ab. Aus den Achtzigern.

Er stand auf. Sah durch die geöffnete Kuppel zu seinem Haus, zum Schlafzimmerfenster. Sie lag dort, schlief. Er sah zum Dach. Moosüberwuchert. Feuchtigkeit. Alt. Aus den Achtzigern. Auch dort war sie, auch im Garten, überall. Nicht nur im Haus.

In seiner rechten Brusttasche spührte die Speicherkarte, die nicht ihren vorbestimmten Platz erhalten hatte. Vergessen. Sie steckte zwischen den Krümeln des Kekses des letzten Astronomietreffens vor fünf Wochen und einem kleinen Schnipsel der abgerissenen Eintrittskarte.

Autorin: KC Osvici (copyright) – Version: 2022-08-15 – ein Feedback ist erwünscht.