Künstliche Sterne

25. August 2025 by Sascha

Ich atmete erleichtert auf, als ich die Tür hinter dem letzten Gast schloss.

„Sehr gut gemacht, Mina“, lobte mein Chef und schaltete das Licht im Saal wieder an. Sterile Scheinwerfer flackerten grell auf, kalt wie Neon in einem Wartezimmer. „Damit hast du deine erste Vorstellung mit Bravour hinter dich gebracht.“

Er hielt die Hand hoch, und ich schlug ein – etwas schüchtern, aber mit einem Grinsen, das ich nicht ganz unterdrücken konnte.

„Das Planetarium ist jetzt über die Mittagszeit geschlossen und öffnet um 15 Uhr wieder“, erklärte er. „Könntest du den Saal noch etwas putzen, durchgehen, ob etwas liegen geblieben ist, Müll aufsammeln und so?“ Er blickte mich fast entschuldigend an, doch ich kannte solche Aufgaben schon aus meinem Ferienjob im Kino – sie machten mir nichts aus. Ich nickte und reckte den Daumen nach oben. „Danach darfst du dann gerne ein bisschen mit dem System herumprobieren. Ich hab‘ dir ja erklärt, wie alles funktioniert – tob dich ruhig aus, dann kannst du Vorstellungen bestimmt schon bald komplett übernehmen. Keine Sorge, die Technik hier ist kaum kaputt zu kriegen. Und wenn du Fragen hast: Ich bin bei der Kasse, komm einfach vorbei.“ Er lächelte mir zu, dann verließ er den Saal – und ich blieb allein zurück.

Mit einer seltsamen Mischung aus Stolz und Ehrfurcht blickte ich mich in dem Kuppelsaal um. Das harte Licht der Deckenstrahler brannte unangenehm auf meiner Haut, sodass meine Finger beinahe instinktiv nach dem Schalter tasteten, den mein Chef eben noch bedient hatte. Die Lampen erloschen mit einem Klicken – und ließen ein mattes Flackern auf meiner Netzhaut zurück, als wäre ihr Licht noch kurz im Raum geblieben. Ich blinzelte, bis die Dunkelheit wieder angenehm wurde.

Mein erster Tag im Planetarium. Ich hätte platzen können vor Freude. Letzten Sommer hatte ich im Kino nebenan gejobbt, aber dieses Jahr – dieses Jahr hatte ich diesen Ort hier bekommen. Und mein Chef hatte sogar gesagt, ich könnte vielleicht bald eigene Vorstellungen halten!

Vorsichtig trat ich an den Projektor heran und musterte die komplizierte Apparatur. Wie war das nochmal? Mein Chef hatte gesagt, ich müsse hier drücken – oder war’s der andere Knopf?

Ich atmete tief durch und betätigte vorsichtig den Schalter. Die Halle versank im Halbdunkel und die Kuppel über mir begann zu glimmen – weich, sanft, fast beruhigend. Zarte Lichtstrahlen zeichneten einen künstlichen Nachthimmel. Sterne funkelten auf, so klar und fein gezeichnet, als wären sie durch eine geheime Linse sichtbar, die nur dieser Ort besaß; hochauflösende Aufnahmen, detailgetreuer als mit bloßem Auge wahrnehmbar.

„Sie sind zu hell“, ertönte plötzlich eine Stimme hinter mir – ein Junge.

Ich fuhr erschrocken herum. Auf einem der Polstersessel saß jemand, ein kleiner Junge mit zerzaustem Haar und finsterem Blick. Er trug schicke, wenn auch etwas altbackene Kleidung; die Sorte, in die Großeltern ihre Enkel gerne steckten, um mit ihnen in ein Konzert oder so zu gehen. Seine Lippen waren zu einem Schmollmund verzogen.

„Wer bist du?“, fragte ich irritiert und sah mich um – der Saal war leer, das wusste ich genau. Wir hatten kontrolliert. Was machte der Junge also noch hier?

Er antwortete nicht, starrte nur weiter mit zusammengekniffenen Augen auf das Firmament über uns.

„Hör mal, die Vorstellung ist vorbei. Deine Familie sucht dich sicher schon“, versuchte ich, ihn auf möglichst höfliche und subtile Weise aus dem Saal zu scheuchen. Allerdings ohne Erfolg – der Kleine blieb stur sitzen.

Immerhin ließ er sich zu einer Antwort herab. „Tut sie nicht. Sie wissen, dass ich hier bin.“

Ich runzelte die Stirn. Der Junge seufzte übertrieben und sah mich dann endlich an. „Du bist neu, oder? Ich bin der Sohn von Herrn Horn, dem Hausmeister. Herr Markula lässt mich in den Pausen oft hier rein. Manchmal darf ich mich sogar in die Vorstellungen schleichen.“

Ich verzog das Gesicht. Am liebsten wäre ich rausgegangen und hätte meinen Chef gefragt, ob das stimmte. Aber der Ton des Jungen war so selbstsicher – fast überheblich –, dass mir die Vorstellung peinlich erschien, er könnte Recht haben.

„Dann bleib aber da sitzen und renn nicht rum oder sowas, okay? Ich muss hier saubermachen“, murmelte ich und wandte mich zum Lichtschalter, um die andächtige Nacht um uns herum zu vertreiben. Ich merkte selbst, dass ich etwas patzig klang; mir gefiel sein Ton nicht. Andererseits – ich war fünfzehn, er vielleicht zwölf. Ich sollte da drüberstehen.

Oder… du könntest mich als Testpublikum nehmen und üben“, schlug er verschmitzt vor.

Ich hielt inne und verengte skeptisch meine Augen. Mein Chef hatte gesagt, ich dürfte mit der Technik herumprobieren… warum eigentlich nicht?

„Na gut. Aber keine Kommentare, klar? Ich mach das zum ersten Mal.“

Ich kramte das dicke Buch über Sternbilder hervor und blätterte zum Kapitel ‚Hochsommer‘. Doch im schummrigen Licht konnte ich die Abbildungen kaum erkennen. Also zog ich mein Handy aus der Tasche.

„Was machst du da?“, fragte der Junge entsetzt.

„Was wohl? Ich kann im Dunkeln nichts lesen.“

„Mach das Licht aus! Du störst die Sterne!“

„Ich glaube nicht, dass sich die Sterne so einfach stören lassen”, erwiderte ich, ohne ihm groß Beachtung zu schenken. “Stell dir einfach vor, es ist ein zusätzlicher Stern. Einer, der nur für dich hier unten leuchtet.“ Ich fand den Gedanken charmant – er anscheinend nicht.

„So ein Quatsch. Kein Stern ist so grell und hässlich wie das Ding. Nicht mal der Mond.“

„Tja, damit wirst du jetzt leben müssen, bei meiner Vorstellung nämlich schon, ich nenne ihn den ‚Handystern‘. Also…“ Ich glich das Bild im Buch angestrengt mit der Projektion über mir ab, aber es sah völlig anders aus. Frustriert biss ich mir auf die Lippe.

„Ähm… das da müsste der Sirius sein?“, versuchte ich es auf gut Glück und zeigte auf irgendeinen Punkt über uns.

Der Junge sah mich fassungslos an. „Bist du dumm?“ Es klang so perplex, dass ich fast lachen musste – fast.

„Bitte?“

„Das ist nicht mal in der Nähe vom Großen Hund. Und Sirius sieht man im Sommer gar nicht – erst ab Herbst, oder im Spätsommer ganz früh morgens.“

„Dann ist es eben der Orion!“

„Orion ist ein Sternbild, kein einzelner Stern. Und auch das sieht man eher im Winter.” Er sah mich skeptisch an. “Hast du den Nachthimmel überhaupt mal gesehen?“

Langsam platzte mir der Kragen. „Nachts ist es gefährlich draußen. Hat man dir das nicht beigebracht?“

Er zuckte nur mit den Schultern. „Nicht gefährlicher als tagsüber. Du solltest den Himmel wirklich mal beobachten. Den echten! Jetzt besonders. Der Perseidenschwarm steht kurz bevor, das ist wunderschön, und—“

Plötzlich verstummte er. Dann duckte er sich unter seinen Sitz.

Ein harter Lichtstrahl schnitt durch das Dämmerlicht. Die Tür war aufgeflogen.

„Was soll das werden?“, krächzte eine Stimme. Ein alter Mann tappte herein, schaltete die Deckenstrahler an – das kalte Licht erstickte die Sterne in einem Moment. Ich riss mir instinktiv den Arm vors Gesicht.

„Nick hat gesagt, du hättest schon alles sauber gemacht. Stattdessen sitzt du hier rum und glotzt aufs Handy.“

„V-Verzeihung, ich… ich wollte nur ein bisschen üben… Und dann war da dieser Junge, der unbedingt wollte, dass ich ihm etwas zeige…“ Ich sah mich hilfesuchend um, doch natürlich war von dem kleinen Kerl nicht die geringste Spur mehr.

„Heinrich, was ist denn los, was schreist du hier so herum?“, rettete mich die Stimme meines Chefs aus der Bredouille. Er sah mich bedröppelt vor dem alten Mann stehen, seufzte und kam in den Saal.

„Deine neue Mitarbeiterin faulenzt hier nur rum, gleich an ihrem ersten Tag. Ich hab‘ dir doch gleich gesagt, ich halte nichts von dieser Ferienjobidee, aber du wolltest ja nicht auf mich hören –“

„Ich regel‘ das, Heinrich. Sei so gut und schau nach dem Eingangsbereich, ja?“, unterbrach ihn mein Chef bestimmt.

Widerwillig trollte sich der Alte. Mein Chef wandte sich mir zu.

„Tut mir leid, Mina. Das war unser Hausmeister, Heinrich Mann. Er ist… nun ja, nicht der feinfühligste Mensch. Ich sprech‘ nochmal mit ihm.“

Ich nickte langsam, ehe mir etwas einfiel. „Ich dachte, unser Hausmeister heißt Herr Horn?“

Er runzelte die Stirn. „Nein. Heinrich ist unser einziger Hausmeister. Vielleicht gab’s mal einen Herrn Horn, aber nicht seit ich hier bin.“

Ich sagte nichts mehr – sondern begann schweigend mit dem Aufräumen.

Später, im Bus nach Hause, fiel mir auf, dass ich meinen Chef gar nicht mehr auf den vorlauten Jungen angesprochen hatte.

Ich nahm mir vor, das morgen nachzuholen – und ihm dabei auch zu stecken, was ich von den Manieren des Kleinen hielt, immerhin brachte er damit das gesamte Planetarium in Verruf, wenn einer der Gäste ihn einmal finden würde.

In der Nacht konnte ich nicht schlafen. Ich wälzte mich im Bett, bis ich es schließlich aufgab, aufstand und mich auf mein Fensterbrett hockte.

Hast du den Nachthimmel überhaupt mal gesehen? – vorlauter Bengel, ich sah ihn jetzt gerade. Das endlose Firmament, die funkelnden Sterne; direkt vor mir.

Grimmig starrte ich in die Dunkelheit und je länger ich hinaussah, desto mehr Lichtpunkte erschienen. Ich blinzelte und sie verschwanden, ehe sie allmählich, beinahe schüchtern wieder aufglommen. Wie ein langsames Erinnern. Keine grellen Flächen, keine flimmernden Deckenstrahler. Nur das weiche, ferne Licht der Sterne.

Bei weitem nicht so spektakulär wie die gestochen scharfen Projektionen im Planetarium eigentlich…

Trotzdem.

Der Junge hatte recht gehabt. Der Himmel war schöner, wenn er echt war.

Vielleicht sollte ich ihm das morgen sagen. Damit er sich seine blöden Sprüche sparen konnte.

Ich habe den seltsamen Jungen nie wieder gesehen.
Aber das wusste ich in dem Moment noch nicht, als ich dort saß. Während über mir ein erster Schweif durchs Dunkel huschte – ein Lichterspiel auf dunklem Grund – und mich die Magie des Firmaments langsam in ihren Bann zog.

Der Perseidenschwarm hatte begonnen.

Sabine Geschka, Juni 2025


Kurzvita

Sabine Geschka (28) schreibt seit ihrer Kindheit mit Vorliebe fantastische und geheimnisvolle Geschichten. Inspiriert vom Nachthimmel und seiner stillen Magie, erschafft sie atmosphärische Welten voller Lichtspiele und eigens erdachter Firmamente. Auch wenn sie bisher noch nicht veröffentlicht wurde, begleitet sie das Schreiben als kreative Konstante durchs Leben.


Sabine Geschka hat mir ihrer Kurzgeschichte „Künstliche Sterne“ unseren Kurzgeschichtenwettbewerb 2024/2025 mit einen Sonderpreis gewonnen.

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