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Es war nicht so, dass Marie nie über die Nacht nachgedacht hätte, sie hatte nur nie die Muße gefunden, ihr eine andere Bedeutung zuzuschreiben als die, die sich ihr Tag für Tag – oder vielmehr Nacht für Nacht – aufdrängte, wenn sie, noch vor Morgengrauen, hinaus in die winterliche Kälte trat, um sich in die anonymen Gänge eines Pendlerzugs zu begeben, oder abends, nach einem weiteren Tag voll flüchtiger Begegnungen, zurückkam in ihre Wohnung, deren Vorhänge sie hastig zuzog, als wäre der Schatten draußen ein Feind, der bloß darauf wartete, eindringen zu dürfen.

Die Nacht war für sie keine Versprechung von Weite, kein Mantel des Trostes oder der Geborgenheit, sondern ein Reich der Unsicherheit, der Angreifbarkeit, bevölkert von Gestalten, die das Tageslicht meiden, umso bedrohlicher in ihrer Unsichtbarkeit erschienen; sie kannte nur das Schwarz zwischen den Laternen, die zu schwach leuchteten, um Sicherheit zu schenken, aber hell genug waren, um die Augen zu blenden, wenn man den Weg nach Hause suchte – hastig, mit angespannten Schultern, die Tasche vor dem Körper, der Schlüssel in der Faust.

Und so war es fast ironisch, dass gerade der Urlaub – jener flüchtige Moment außerhalb der Struktur, an einem Ort, der mit Wind und Weite mehr zu tun hatte als mit Straßen und Schildern – dazu führte, dass sich in ihr eine Tür öffnete, die sie längst versiegelt geglaubt hatte: eine Tür zum Staunen, zum Innehalten, zum Loslassen.

Sie war bei Jenny, ihrer Freundin aus alten Tagen, die den Mut aufgebracht hatte, sich an einem abgelegenen Küstenstreifen unterhalb von Dänemark ein anderes Leben aufzubauen: einen Gnadenhof für Tiere, die anderswo als verlorene Fälle galten, und Marie half ihr in ihrem Urlaub so gut sie konnte, fegte Ställe aus, schleppte Heuballen, streichelte lahmende Esel und sprach mit Katzen, die niemandem mehr vertrauten – und am Abend, als sie beide erschöpft, jedoch von der erledigten Aufgabe beseelt auf der kleinen Holzbank vor dem Haus saßen, tranken sie dampfenden Tee und redeten über das, was sie hinter sich gelassen hatten, und das, was sie nie zu fassen bekamen.

An einem solchen Abend – der Wind war zurückgegangen, das letzte Meckern einer Ziege verklang in der Stille – verabschiedete sich Marie, müde, mit schmerzenden Händen und einem Herzen, das sich seltsam gelöst anfühlte, und wollte zurück zur Ferienwohnung, einem kleinen, schiefergedeckten Häuschen, ein paar hundert Meter entfernt.

Sie öffnete die Tür des Haupthauses des Gnadenhofs, trat hinaus, zog den Reißverschluss ihrer Jacke bis zum Kinn, fröstelte leicht, und während ihre Gedanken noch an etwas hafteten, das Jenny ihr kurz zuvor erzählt hatte – irgendetwas über einen Schafbock, der sich nicht von seiner kranken Gefährtin trennen ließ –, hob sich ihr Blick ganz von selbst, beinahe so, als habe ihn ein unsichtbarer Faden in den Nacken gezogen, langsam, tastend, ohne Absicht – und dann hielt sie inne.

Was sie sah, war keine Leere, kein Schwarz, kein schlaffes Firmament, sondern etwas, das jenseits ihrer Vorstellungskraft lag: ein Bogen aus tiefer, durchdringender Dunkelheit, in die sich das Licht der Sterne wie in Samt gegraben hatte – unzählige Punkte, scharf gezeichnet, still und zugleich vibrierend, als wollten sie ihr etwas mitteilen, ein Wissen, das in keiner Sprache ausgedrückt werden konnte.

Marie blinzelte, blinzelte erneut, trat einen Schritt zurück, als müsste sie Abstand gewinnen, um zu begreifen, was sie sah, und für einen flüchtigen Moment glaubte sie, den Halt zu verlieren, nicht körperlich, sondern innerlich – als sei ihr Weltbild, das so lange in den Grenzen von Straßenlaternen, Neonlichtern und zugigen U-Bahn-Eingängen gefangen gewesen war, plötzlich zu klein geworden für diese Wahrheit, die sich über die Scheunen und Weiden ausbreitete wie ein offenes Geheimnis.

„Ach, du meine Güte!“, flüsterte sie, ohne zu wissen, an wen sich diese Worte richteten, vielleicht an sich selbst, vielleicht an etwas, das über ihr war, vielleicht auch nur an das Erstaunen selbst, das sich wie ein unerwarteter Gast in ihrer Brust ausbreitete und dort zu glühen begann, warm, fremd, belebend.

Sie stand reglos, wie in ein unsichtbares Band geschlungen, schaute nach oben, dann wieder, dann noch einmal, versuchte, einzelne Sternbilder zu erkennen, doch das Denken wich zurück, wich der bloßen Empfindung, dem Staunen, der fast kindlichen Ehrfurcht, die sie nie gesucht, aber jetzt gefunden hatte – oder vielmehr: die sie gefunden hatte.

Sie merkte nicht, wie Jenny die Tür öffnete, auf die kleine Treppe trat, mit zwei Decken in der Hand – eine für sie, eine für Marie –, sie merkte nicht, wie Schritte knirschend über den Kies kamen, nicht, wie Jenny neben sie trat und sie musterte, halb belustigt, halb berührt, bevor sie sagte: „So hast du ihn noch nie gesehen, oder?“

Marie schüttelte nur langsam den Kopf, noch immer ohne Worte, als hätte man ihr für diesen Moment die Sprache genommen, nicht aus Schock, sondern weil es nichts zu sagen gab, nichts, das das fassen konnte, was sich gerade in ihr abspielte – ein Erstaunen, so zart und gleichzeitig so raumfüllend, dass es sie selbst zum Leuchten brachte, wenn auch nur innerlich, als wäre in ihr etwas entzündet worden, das lange geschlummert hatte.

Jenny lächelte, reichte ihr die Decke, die Marie fast nicht bemerkte, so sehr war ihr Blick noch immer nach oben gerichtet, dann legte sie ihre eigene Decke auf das Wagendach und sagte: „Komm, leg dich kurz. Das ist besser als jeder Fernseher.“

Sie zogen sich auf die Motorhaube zurück, die noch die milde Wärme des Tages in sich trug, und streckten sich unter den mitgebrachten Decken aus, Schulter an Schulter, schweigend, während über ihnen das Firmament pochte wie ein lebender Teppich, ein atmendes Lichtgewebe, das keinen Anfang und kein Ende zu kennen schien.

„Ich wusste nicht …“, begann Marie, hielt inne, suchte nach einem Wort, das weder zu klein noch zu pathetisch war, fand keines und sagte schließlich: „… dass das wirklich so aussieht. Ich dachte immer, die Fotos wären irgendwie… bearbeitet.“

Jenny lachte leise, sanft, nicht spöttisch: „Das denken viele. Aber das ist nur der Teil der Nacht, den wir vergessen haben – weil wir sie eingesperrt haben zwischen Reklame und Laternenlicht.“

„Und du hast keine Angst?“, fragte Marie schließlich, „nachts, wenn es so … so ganz still und dunkel ist?“

„Am Anfang schon“, sagte Jenny. „Weil ich die Stille nicht kannte. Weil ich dachte, sie wäre leer. Aber sie ist nicht leer. Sie ist voll. Sie ist ein voller Raum, voller tiefer Geduld – und wenn man möchte, auch voller Antworten, die sich nicht aufdrängen, sondern einfach existieren.“

Marie schwieg, spürte Jennys Worte in sich nachhallen, wie Tropfen, die in einen tiefen Brunnen fallen, einer nach dem anderen, bis man merkt, dass das Wasser längst sich angesammelt hat, nur eben sehr, sehr weit unten, tief in einem drin.

Und während sie dort lagen, auf der leicht gewölbten Motorhaube des alten Kombis, das Blech unter ihnen warm wie ein Resttag, auf dem noch etwas ruhte, das nicht verschwinden wollte, legte sich eine Stille über alles – nicht plötzlich, nicht mit einem Schnitt, sondern wie eine zweite Decke, eine, die in Zeitlupe fällt, sich langsam ausbreitet, Falten schlägt, sich über jedes Geräusch legt und es nicht erstickt, sondern verwandelt.

Es war keine Stille, die leer war, nicht das Fehlen von Klang, sondern das Dasein von etwas, das sich dem Gehör entzog, aber dennoch anwesend war – eine Gegenwart ohne Form, ein Raum ohne Begrenzung, so fein gewebt, dass jeder Atemzug darin zu schweben schien, schwerelos und zugleich bedeutungsvoll, als sei jede Sekunde ein Gefäß, das nur darauf wartete, mit etwas gefüllt zu werden, das keine Worte kannte.

Dann, fast gleichzeitig, als hätte die Welt beschlossen, sich ihr nach dem Eindringen der Stille langsam wieder zu offenbaren, bewegte sich etwas im Gras zu ihren Füßen, ein leises Rascheln, kaum mehr als eine Geste – das vorsichtige, kaum merkliche Streifen des Dünengrases im Wind, das nicht einmal ein Klingen war, sondern eher ein Erinnern an Klang, wie der Nachhall einer Melodie, die man nur im Innern hört, wenn man lange genug geschwiegen hat.

Und noch weiter, vielleicht am Rand der Koppel oder bei dem alten Schuppen, knackte plötzlich ein Holz, trocken und mürbe, so, wie es nur altes, der Witterung überlassenes Holz tut, das seine Geschichten nicht mehr laut erzählt, sondern in kleinen, abgehackten Lauten, die sich mehr an die Nacht wenden als an das Ohr des Menschen.

Aus dieser Stille, aus diesem Raum zwischen Himmel und Boden, zwischen Rascheln und Knacken, zwischen ihrer Freundin neben sich und der Welt, die nicht mehr dieselbe war wie noch vor einer Stunde, stieg in Marie ein Gedanke auf – nicht schnell, nicht wie eine Erkenntnis, sondern eher wie eine Nebelschwade, die sich ihren Weg sucht, langsam, durch das hohe Gras ihrer Gedanken: dass sie in all den Jahren nicht nur die Nacht gemieden hatte, sondern auch etwas in sich selbst, das nach Weite verlangte, nach einem Raum und der menschlichen Erlaubnis, sich still zu wundern.

Marie wusste – wie man etwas weiß, wenn man es nicht mehr beweisen muss –, dass sie diesem Abschnitt des Tages, diesem stillen, großen, oft missverstandenen Reich von Lichtpunkten und Lautlosigkeit, in Zukunft mehr Raum einräumen würde – nicht aus irgendeiner Pflicht, nicht aus einer extern aufgezwungenen Einsicht, sondern weil sie begonnen hatte, diesen Abschnitt des Tages besser zu verstehen.

Christian Knieps, Juni 2025


Kurzvita

Christian Knieps, geb. 1980, lebt und arbeitet in Bonn, schreibt Romane, Theaterstücke,
Novellen und Kurzgeschichten. Zuletzt: Chaos:Vater. Mehr Infos zu den Veröffentlichungen auf
christianknieps.net.


Christian Knieps hat mir seiner Kurzgeschichte „Das Wunder der Nacht“ unseren Kurzgeschichtenwettbewerb 2024/2025 mit einen Sonderpreis gewonnen.

Klick! machte es und schon hatte Layla mit ihrer Kamera ein faszinierendes Stückchen Welt konserviert. Von ganz unten in der Gasse hatte sie aus der Froschperspektive heraus nach oben fotografiert. An einer Hausfassade reihten sich für die Werbung einer Fluggesellschaft neon-gelb leuchtende Vögel-Figuren aneinander. Verschwommen sah man darum herum die bunten Lichter anderer Leuchtreklamen und eine Ahnung des bläulich schimmernden Nachthimmels, der sich matt und leblos über die zahllosen Wolkenkratzer der Stadt erstreckte.
Ein fremdartiges Geräusch riss Layla aus ihren Gedanken. Inmitten von Verkehrsrauschen und fernem Sirenenalarm hatte zu ihren Füßen etwas … gequakt? Erschrocken wich sie einen Schritt zurück, als sie die hässliche kleine Kreatur erblickte, die vor ihr auf dem Boden saß und sie mit zwei schwarzen Augen grimmig anstarrte. Eine Dunkelkröte!
Layla begab sich schwerfällig – sie war nicht mehr die jüngste – in eine Hocke und musterte das Wesen nun mit warmherziger Neugier. Eigentlich war es gar kein Wunder, dass die zwei einander zu so später Stunde begegneten. Schließlich waren beide nachtaktiv. Layla hatte nach ihrem Ruhestand bald erkannt, dass die Nacht der wertvollste Zufluchtsort für einen Menschen war, den diese ruhelose Welt einem bieten konnte. Wenn die meisten Leute schliefen, lief das unermüdliche Getriebe dieser Stadt zumindest ein klein wenig gemäßigter.
Die Leuchtreklamen legten einen bunt schillernden Schleier über die Fassaden und Straßen. Erst spät hatte sie die Fotografie für sich entdeckt, doch sie hatte ihre Sicht auf die Welt komplett verändert. Sie schritt mit so viel mehr Achtsamkeit durch die Gassen der Stadt, entdeckte Details, an denen sie früher wie eine Schlafwandlerin vorbeigegangen war.
Wie viele Menschen wohl an dieser Dunkelkröte vorbeigezogen waren, ohne sie überhaupt zu bemerken? Das Tier hockte inmitten von Straßenmüll. Schon vor langer Zeit waren die Kröten Teil der Stadt geworden, ähnlich wie so viele andere Arten, die die Metropolen der Welt als völlig neues Ökosystem für sich entdeckt hatten und sich in ihren dunklen Winkeln einnisteten, vom Abfall der Menschen lebend. Die Dunkelkröten hatten in der Kanalisation und den mit Regenwasser gefüllten Schlaglöchern der ärmeren Teile der Stadt Einzug gehalten.
Es hieß, dass sie in einer ursprünglicheren Umgebung eine besondere Camouflage-Technik anwenden konnten, bei der sich ihre Haut der Umgebung anpasste. Es gab sogar das Gerücht, dass sie mittels Biolumineszenz leuchten konnten und dadurch Insekten anlockten, um sie zu fressen. Layla hatte einmal gelesen, dass sie in der Stadt jedoch nur Maden aßen, die sie im Abfall fanden. Fliegende Insekten gab es kaum welche. Kein Wunder, schließlich war etwa die Hälfte aller Insektenarten nachtaktiv und auf das natürliche Leuchten von Himmelskörpern angewiesen, um sich zu orientieren. Die grelle Stadt war für solche Wesen ein tödliches Labyrinth.
Die runzlige Haut der Kröten war meist in einem Grau-Braun gehalten. Damit war sie auf den städtischen Böden quasi unsichtbar. Zumindest für unaufmerksame Blicke.

Layla setzte mit der Kamera an, um den Anblick der Kröte einzufangen. Plötzlich fühlte sie einen Ruck in ihrer linken Schulter. Jemand hatte sie angerempelt. Sie blickte nach oben in das verärgerte Gesicht eines Mannes, der gerade noch auf sein Smartphone geschaut hatte.
»Entschuldigen Sie, gute Frau, aber warum müssen Sie denn auch mitten im Weg rumhocken?«, sagte er verärgert und hastete weiter, ohne eine Antwort abzuwarten. Layla schaute ihm irritiert nach. Die Kröte war nicht das einzige unsichtbare Wesen in dieser ständig abgelenkten Stadt.
Aber wenigstens war Layla in ihrer natürlichen Umgebung, schließlich wurden Städte doch für den Menschen und seine Bedürfnisse gebaut, oder? Doch sie war sich da nicht so sicher. Wie oft war sie unterwegs gewesen und hatte Durst gehabt, konnte sich aber gerade keine Flasche Wasser leisten? Wie oft war sie lange in ihrem Zimmer wach gelegen, weil es durch die Leuchtreklamen einfach nicht richtig dunkel wurde?
Vielleicht hatte sie sich ihrer Umgebung genauso notdürftig angepasst, wie die Dunkelkröte vor ihr. Letztendlich wusste Layla auch nicht, wo sie sonst hätte leben können. Aber für die Kröte gab es wenigstens noch eine Chance, sich an einem Ort richtig heimisch zu fühlen. Sie fasste einen Entschluss. Aus einer nahegelegenen Papiertonne fischte sie einen Schuhkarton. Mit einem Stift stach sie kleine Luftlöcher hinein. Und nur mit ein klein wenig Ekel drückte sie die Kröte, die vor nichts und niemand Angst zu haben schien, sanft in die Box.

Praktischerweise fuhr der Zug auch zu so später Stunde noch, um den Transport in die nächstgelegene Stadt zu ermöglichen. Doch Layla interessierte nicht die andere Metropole, sondern das, was dazwischen lag. Sie musste bei der KI, die den Zug steuerte, extra angeben, dass sie an der Haltestelle im Dorf am Sumpfgebiet aussteigen wollte. Normalerweise wurde diese nachts übersprungen, weil es nur wenige Bewohner hatte und sonst nur Touristen dorthin reisten, um die spektakulären Überreste des Tagebaus anzusehen. Lange war dort der Boden für seine Schätze ausgehöhlt worden. Das hatte tiefe Narben in der Landschaft hinterlassen. Die Firma hatte versprochen, das Gebiet zu renaturieren, es wieder mit Pflanzen und künstlich angelegten Gewässern zu beleben. Das war schon einige Jahrzehnte her. Nur sehr zögerlich hatte sich dort wieder Flora und Fauna angesiedelt. Von einem richtigen Wald, der über hunderte Jahre hinweg leben und gedeihen konnte, war das Gebiet immer noch weit entfernt. Trotzdem wurden dort Dunkelkröten gesichtet.
Als die KI-Stimme nach etwa zwei Stunden Fahrt die Haltestelle ansagte, stieg Layla, die Box wie ein Baby im Arm haltend, aus. Zielstrebig ging sie durch das schläfrige Dorf, um danach auf einem von Büschen umgebenden Pfad weiterzugehen. Es war so dunkel, dass sie eine Taschenlampe aus ihrem Rucksack herausholte. Ihr war ein bisschen mulmig zumute. An eine solche Dunkelheit war sie nicht gewöhnt.
Irgendwann erreichte sie einen großen Teich. Er schien durch einen natürlichen Damm entstanden zu sein, den ein Biber gebaut hatte. Der Biber hatte sich als ein so viel besseres Renaturierungstalent erwiesen als der Mensch, stellte Layla schmunzelnd fest. Durch die Stille hindurch hörte sie die Kröte sanft quaken. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie auf etwas zu antworten schien. Irgendwo im Dunkel der Nacht hallte dasselbe Geräusch durch andere Kröten zu ihr zurück. Hier lebte ihresgleichen.
Den ganzen Weg hierher war die Kröte ruhig gewesen, doch jetzt waren ihre Bewegungen im Inneren des Kartons spürbar. Sie wollte raus. Layla beeilte sich, sie ans Ufer zu tragen und setzte die rumpelnde Box vorsichtig ab. Kaum hatte sie den Deckel abgenommen, sprang die Kröte heraus und landete mit einem lauten Platsch im Wasser.
Layla fühlte sich plötzlich sehr allein inmitten der Stille und der Dunkelheit. Ein Unbehagen schlich sich an sie heran. Sie spürte, wie schutzlos sie ihrer uneinsichtigen Umgebung ausgeliefert war. Doch sie blieb einen Moment in der Stille sitzen. Sie hörte das unermüdliche Zirpen der Grillen. Den fernen Ruf eines Uhus. Das Flattern von Fledermäusen, die sich in leisen Kunstflügen an Insekten in der lauen Sommerluft labten. Sie war nicht allein. Die Nacht war voller Leben und Wesen, die ihre vielen eigenen Ziele verfolgten. Layla schaltete ihre Taschenlampe aus und ließ sich jetzt vollends von der Dunkelheit der Nacht einhüllen.
Nun taten ihre Augen merklich etwas, von dem sie sich kaum bewusst war, dass sie es konnten: Sie gewöhnten sich an die Dunkelheit. Plötzlich sah Layla einen leuchtenden Punkt hoch oben am Himmel. Sie dachte erst, es handelte sich um ein Flugzeug oder einen Satelliten, doch da es sich nicht bewegte, stattdessen nur gleichmäßig funkelte, konnte es das nicht sein. Das hier war nichts menschengemachtes, sondern etwas, das sehr viel älter war als die Menschheit selbst. Sie sah einen Stern.
Je länger sie schaute, desto mehr leuchtende Punkte gesellten sich zu ihm, ganz so, als würden sie gerade erst Stück für Stück auf das Firmament gemalt. Momente später war der ganze Himmel davon erfüllt. Entlang eines bogenförmigen Lichtmeeres sammelten sich besonders viele Sterne. Layla hatte davon gelesen, sie jedoch noch nie zuvor mit eigenen Augen gesehen: Die Milchstraße. Erst jetzt fasste sie, wie das Leben in der lichtdurchfluteten Stadt ihre Welt verkleinert hatte, ihr etwas so kostbares, nur schwer mit Worten beschreibbares, geraubt hatte.
Etwas anderes erhaschte jetzt ihre Aufmerksamkeit, direkt vor ihr im Wasser. Ihre ganze Umgebung hatte an Konturen gewonnen, sie erkannte so viel mehr als zuvor. Nun sah sie auch das Seerosenblatt, auf dem ihre Dunkelkröte saß. Sie leuchtete sanft. Oder genauer: Einzelne ihrer Warzen leuchteten, fast so wie Sterne. Die Kröte war wieder in einer Umwelt, die nach dem Ausleben ihrer natürlichen Rhythmen verlangte. Layla lächelte und saß noch eine Weile in der Dunkelheit. Eine tiefe Ruhe hatte schon längst jedes Unbehagen verdrängt, das sie zuvor gespürt hatte. Ihr ging es ganz ähnlich wie der Kröte.

Am nächsten Tag stand Layla in der Besenkammer ihrer Wohnung, die sie zur Dunkelkammer umfunktioniert hatte. Sie beobachtete, wie aus einem schwarzen Bild heraus das Foto entstand, das sie in der Stadt von der Kröte gemacht hatte. Sie verstand die Dunkelheit jetzt als etwas lebensspendendes. Pflanzen wuchsen aus der Dunkelheit der Erde hinaus und wurzelten für immer in ihr. Lebewesen, die geboren werden oder aus einem Ei schlüpfen, kennen zuerst nichts als Dunkelheit. Sogar das Universum selbst mitsamt seinen Sternen, war wohl aus der Dunkelheit heraus entstanden. Layla beschloss, dass sie als Nächstes lernen würde, wie man den Nachthimmel fotografierte. Obwohl sie bezweifelte, dass irgendeine Abbildung seinem unmittelbaren Anblick je ganz gerecht werden könnte.

Teresa Steidele, Juni 2025


Kurzvita

Teresa Steidele, Jahrgang 1998, studierte Medien und Kommunikation an der Universität Passau. Derzeit ist sie im Autorennetzwerk der Ströer Media Brands GmbH als Lektorin und Autorin tätig. Auf ihrem Blog chrononautin.com veröffentlicht sie Essays und Kurzgeschichten rund um Phantastik und Philosophie. Von Kindheit an taucht sie gerne in Fantasy- und Science-Fiction-Geschichten ein, fasziniert von der Macht der Genres, die Grenzen des Möglichen infrage zu stellen. Mindestens genauso fasziniert ist sie von den Wundern des Weltraums, die ebenso zum Träumen anregen.


Teresa Steidele hat mir ihrer Kurzgeschichte „Die Dunkelkröte“ unseren Kurzgeschichtenwettbewerb 2024/2025 den dritten Platz gewonnen.

Das Erste, was mir auffiel, war die Motte. Sie sollte mit ihren Schwestern um die Straßenlaterne vor dem Haus fliegen, in immer engeren Kreisen, bis sie ermattet abstürzt. Schön ist das nicht, besonders für die Motte, aber ihr kleines Insektengehirn ist es eben so verdrahtet, dass es gut erscheint, in Richtung Licht zu fliegen. War es auch lange, bis der Mensch kam, das Licht und noch ein paar Dinge mehr erfand und alles veränderte. Doch genau dieses Licht war jetzt weg, die Straßenlaterne aus und die Motte in meinem Zimmer.

Ich schaute nach draußen und sah zum ersten Mal die Sterne in der Stadt. Nicht ganz so viele, wie wenn man in einer Wüste nach oben schaut, aber deutlich mehr als sonst. Aus meinem Fenster im vierten Stock konnte ich vom Hang hinab die Stadt überblicken: Es war nicht nur die Laterne vor meinem Haus, nicht nur in der Straße oder dem Viertel – es war die ganze Stadt.

Abgesehen von den Autoscheinwerfern und dem Krankenhaus mit seiner Notbeleuchtung war es stockdunkel draußen: Keine digitalen Werbeflächen, keine Schaufenster, keine Leuchtreklame. Und ich war nicht allein, viele Menschen hatten die Fenster geöffnet oder waren auf der Straße und ich bemerkte, es war nicht nur dunkel, es war auch still. Handys taugten nur noch als Taschenlampe, ohne Strom auch kein Mobilfunk. Ich nahm mir ein Bier mit, im Kühlschrank würde es sowieso nur warm werden. Es war Frühsommer, der Klimawandel ließ sich nicht lumpen so dass die Luftfeuchtigkeit in kleinen Perlen am Flaschenhals meiner Bierlasche kondensierte.

„Wir müssen Mutter anrufen“, rief jemand. „Wir müssen fragen, ob sie Strom hat.“
„Wir können Mutter nicht anrufen, die Telefone funktionieren nicht. Was willst Du sie denn fragen, selbst wenn sie Strom hat. Ob sie uns eine Tüte voll abgeben kann?“

Ich ging weiter. Ich hatte auch keinen Strom dabei. Nur auf dem Handy war noch ein kleiner Rest. Ich machte Fotos: Die Leuchtreklame, die nicht blinkte. Die digitalen Werbetafeln, deren Licht nicht mehr die Nacht durchschnitt. Die Straßenlaternen, die nicht mehr leuchteten. Und da sah ich es im Gegenlicht eines Autos, das langsam, fast suchend auf mich zu fuhr: Keine Insekten mehr um die Straßenlaterne. Sie waren frei. Dafür Fledermäuse, die jetzt durch die ganze Straßenschlucht stürzten und sich nicht mehr um die Laternen schwindelig flogen.

Die Fotos waren für meine Freunde in Frankreich vom „Clan du Neon“, die sich auch Energiefischer nannten und mit langen Angeln durch Paris und andere Orte laufen, um nachts das Licht von Leuchtreklamen auszumachen.

Ich weiß noch, als ich sie das erste Mal in den Straßen von Paris sah: Ich war auf Besuch bei einer Freundin und sie und ich und der Hauswein eines kleinen Bistros hatten ein sehr schönes Wiedersehensfest gefeiert. Deshalb war mir damals auch zuerst unklar, ob ich wirklich das sah, was ich zu sehen glaubte: Drei Gestalten in Clownskostümen, die vor Geschäften hochsprangen und die Leuchtreklamen gingen aus.

Ich blieb auf dem Kopfsteinpflaster stehen und starrte zu ihnen. Meine Freundin starrte mich an.
„Was tun sie da?“, fragte ich.

„Sie befreien Mücken“, antwortete sie.

„Mücken?“, fragte ich. „Was für Mücken?“ Möglicherweise war mein Französisch doch nicht mehr so gelenkig, wie ich vor mir selbst annahm.

„Ja, Mücken, diese kleinen Viecher, die dich nachts durch ihr Bssssssss nicht einschlafen lassen und immer um dich herumfliegen. Und wenn das Bssssss aufhört, weißt Du, dass sie auf Dir gelandet sind und Dein Blut wollen.“

„Aber nur die weiblichen Mücken“, sagte der Teil von mir, der nachts zu viele Tierdokus schaute. „Und, und, und … auch wenn sie nerven, sind sie doch wichtig für unser aller Überleben.“

„Deshalb befreien ja die Leute da vorne auch die Mücken“, sagte sie.

„Aber die springen doch nur hoch oder stochern in der Luft rum. Was hat das mit Mücken zu tun?“

Adeline hakte sich bei mir ein, so wie früher und sagte: „Komm, gehen wir mal rüber und fragen sie.“

Und so saßen wir fünf Minuten später zusammen auf dem Bürgersteig, jemand hatte noch einen Rotwein und ein paar Gläser aufgetrieben. Nach rechts waren alle Leuchtreklamen aus, nach links waren sie noch an.

Celine hatte ihre grüne Clownsperücke abgesetzt und neben die umgebaute Angel gelegt.

„Also ihr geht durch die Straßen und macht die Leuchtreklamen aus“, fasst ich zusammen, was ich begriffen hatte.

„Nur von den Geschäften, die nicht wichtig sind. Apotheken und so rühren wir nicht an.“

„Es geht um die Lichtverschmutzung in den Städten nachts“, erklärte sie und es schien mir wirklich so, dass es nach rechts mehr Stern zu sehen gab als nach links. Vielleicht war das aber auch nur der Rotwein in mir.

„Kein Mensch braucht diese Leuchtreklamen Die meisten Geschäfte sind zu. Und alle klagen über steigende Strompreise.“

„Warum habt ihr alle Clownskostüme an? Das ist doch total auffällig.“

„Es sollen ja auch auffallen. Hier ist keine Leuchtreklame aus, weil sie kaputt ist. Sie ist aus, weil wir sie ausgemacht haben.“

Guy drückte mir einen Aufkleber in die Hand, auf dem „Clan du Neon“ stand. „Den kleben wir immer dahin.“

„Per Gesetz müssen alle Geschäfte einen Ausschalter draußen am Geschäft haben. Den drücken wir dann eben beim Spazieren gehen. Hält auch ziemlich fit, da hochzuklettern, da brauchst Du kein teures Fitnessstudio mehr…“

„Und, ist das schwierig?“, war meine nächste Frage.

Der Wein war leer, die Antwort von Adelaine war „pas du tout“ und selten habe ich den Muskelkater am nächsten Tag so genossen, wie damals in Paris.

Und ich habe bis heute nicht vergessen, wie es war, wenn man bei einer Leuchtreklame den Schalter drückt, das Licht ausgeht und der Schwarm der Mücken und Nachtfaltern, der sinnlos davor herum wabert, sich langsam auflöste und die Insekten ihre Freiheit wiederfinden.

Paris war schon ein paar Jahre her und hier gab es keine Schalter außen an Geschäften, die man einfach drücken konnte. Und hier war auch keine Armee des „Clan du Neon“ unterwegs. Hier war der Strom einfach so weg.

Aber der Blick in den Himmel war noch besser als damals in Paris, denn hier war alles aus, so wie in Spanien neulich. Zu gern wäre ich jetzt als Satellit unterwegs, um zu sehen, wie es von oben aussieht.

Ich ging weiter die Straße hinab, an der nächsten Kreuzung loderte ein Feuer, und statt scheppernder Musik aus einem Handylautsprecher saß da eine Gruppe Jugendlicher, die zur Gitarre sang. Die Mücken tanzten über den Köpfen der Menschen, nicht zu nah am Feuer, das war zu heiß, aber unwiderstehlich angezogen von dessen Licht und dem Geruch der Menschen. Immer wieder stieß eine Fledermaus für einen Snack hinab und der Gesang der Menschen tanzte im Rhythmus der Flammen. Ich hörte eine Weile zu, dann ging ich weiter, dem Fluss entgegen, der im Tal durch unsere Stadt floss. Schon aus der Entfernung konnte ich sehen, wie sich die Sterne im Fluss spiegelten.

Ich ließ mich in den sternklaren Nachthimmel fallen.

Dann nahm ich das leere Marmeladenglas aus der Tasche, schraubte es auf und hielt es den Sternen entgegen. Es dauerte nicht lange, bis ich das Schlagen kleiner Flügel hörte, mit dem die Motte, die ich vorhin in meinem Zimmer eingefangen hatte, zittrig zu den Sternen aufstieg.

Ich weiß, was Adelaine gesagt hätte: „Für uns macht das vielleicht keinen Unterschied. Für die Motte schon.“

Jörg Ehrensberger, Juni 2025


Kurzvita

Jörg Ehrnsberger ist Autor literarischer Werke, Sachbüchern und Theaterstücken. Er ist seit vielen Jahren international in der Autorenbildung tätig und hat auch zu diesem Thema veröffentlicht.
Bezug zum Thema Dunkelheit:
- Studium der Biologie
- Ein Theaterstück über den „Clan du Neon“ (Energiefischer), in dem es darum geht, wie Jugendliche aus Diskussionen über Stromverschwendung und Lichtverschmutzung auf den „Clan du Neon“ treffen und aktiv werden.

Jörg Ehrensberger hat mir seiner Kurzgeschichte „Die Dunkelheit“ unseren Kurzgeschichtenwettbewerb 2024/2025 den dritten Platz gewonnen.

Die Nacht der Befreiten

16:00 Uhr.

Die Siesta ist vorüber. Esperanza drückt die knarrende Holztür auf und tritt in das Büro der Sociedad Española contra la Contaminación Lumínica – der Spanischen Vereinigung gegen Lichtverschmutzung – deren Gründerin, Geschäftsführerin und Mädchen für alles sie ist. Diese Bastion des Kampfes liegt zwischen einem Tattoo-Studio und einem veganen Café.

Sie lässt sich in den wackeligen Drehstuhl fallen. An den Fensterscheiben kleben ihre handgeschriebenen Texte wie Apaga una luz, enciende una estrella – lösche ein Licht, entzünde einen Stern.

An den Wänden blättert die Farbe. Und in ihrem Herzen die Hoffnung. Seit fünfzehn Jahren kämpft sie in einer Stadt, die niemals schläft. Mit bescheidenem Erfolg. Ihre Website? 47 Aufrufe im letzten Jahr. Ihr letzter Online-Vortrag? Drei waren dabei. Zwei wach, einer schlafend.

16:37 Uhr.

Esperanza tritt zur Kaffeemaschine und schaut auf die Strasse hinaus. Erste Neonlichter beginnen zu flackern. Das übliche Abendritual nimmt seinen Anfang. Madrid rüstet sich für eine weitere gnadenlos helle Nacht.

16:39 Uhr.

Die Kaffeemaschine stottert prustend. Die Glühbirne über dem Schreibtisch zuckt. Einmal. Zweimal. Mit einem leisen Plopp erlischt sie. Esperanza seufzt und tastet nach ihrer Taschenlampe. „Schon wieder die Sicherung“, murmelt sie.

Als sie aufblickt, stutzt sie. Auch die Strassenlaterne vor dem Fenster ist aus. Die grelle Neonreklame des Tattoo-Studios: dunkel. Das LED-Display der Bank: schwarz. Ihr Herz beginnt zu rasen. Das ist mehr als eine kaputte Sicherung. Sie schaltet das alte Radio ein, dreht nervös am Regler. Rauschen. Fetzen von Stimmen: „…kompletter Stromausfall…“ „…Millionen von Menschen…“ Die Stimme verstummt.

Esperanzas Hände zittern. Sie reisst das Fenster auf und lehnt sich hinaus. Über der Stadt, wo normalerweise ein orangefarbener Lichtschleier die Sicht trübt, funkeln Sterne. Echte Sterne! Die Milchstrasse zieht sich wie ein silbernes Band über den Himmel. Tränen steigen in ihre Augen. Das ist er. Der Himmel, für den sie kämpft. Der Himmel ihrer Kindheit in den Bergen Asturiens. Glücksgefühle durchströmen sie.

20:38 Uhr.

Polter! Polter! Polter! Fäuste hämmern gegen die Bürotür. Esperanza zuckt zusammen. Stimmen dringen ins Innere: „Aufmachen! Wir wissen, dass Sie da sind!“

Sie öffnet zögernd. Vor ihr drängt sich eine Gruppe verzweifelter Menschen.

„Machen Sie das Licht sofort wieder an!“, kreischt eine junge Frau und wedelt mit ihrem toten iPhone. „Ich war gerade dabei, meinen Instagram-Post hochzuladen! Drei Stunden Arbeit für das perfekte Foto. Und jetzt ist alles hin!“

Ein Mann im zerknitterten Anzug drängt sich vor: „Meine Präsentation ist morgen früh! Ohne PowerPoint bin ich ruiniert! Verstehen Sie? Ru-i-niert!“

„Die Werbetafel von unserem Restaurant ist dunkel“, jammert ein Mann mit Kochschürze. „Ohne unser Neonschild finden die Kunden uns nie! Wir gehen bankrott!“

21:18 Uhr.

Die Menschenmenge wird grösser. Eine Teenagerin mit weit aufgerissenen Augen steht vor ihr: „Es ist so dunkel! So tot! Ich halte das nicht aus! Wo ist das Licht?“

Eine Mutter zerrt drei Kinder hinter sich her: „Die Kleinen haben Angst! Es ist ein Alptraum!“

Ein älterer Herr hält sein nicht mehr funktionierendes Tablet hoch: „Meine Nachrichten! Meine E-Mails! Wie soll ich wissen, was auf der Welt passiert? Ich bin verloren!“

Esperanza stammelt: „Ich bin nicht zuständig für Stromausfälle, wenn ich auch für weniger Licht kämp…“

„Sie sind doch von der Lichtbehörde!“, unterbricht sie ein junger Mann, dessen Gesicht matt im Licht des Displays schimmert. „Sie müssen das reparieren! Sofort!“

21:34 Uhr.

Immer mehr Menschen strömen herbei. Ein Uber-Fahrer fuchtelt mit seinem Handy: „Mein GPS funktioniert nicht! Wie soll ich arbeiten? Wie soll ich überhaupt wissen, wo ich bin?“

Eine Influencerin mit perfekt gestylter Frisur: „Ich habe 500.000 Follower! Die warten auf meinen Nachtpost! Das ist eine Katastrophe! Meine Reichweite bricht zusammen! Meine Karriere ist vorbei!“

Ein Youtuber brüllt entnervt: „Mein Equipment! Meine Softboxen! Ohne Strom ist alles umsonst!“

Ein Banker: „Die Börse! Wie soll ich handeln ohne meine drei Monitore? Jede Minute kostet mich Tausende!“

Esperanza versucht sich zu erklären, aber niemand hört zu. Die Menge wird unruhiger, aggressiver.

„Das ist eine Katastrophe!“, brüllt jemand aus der Menge. „Wie sollen wir leben ohne Licht? Licht ist ein Menschenrecht!“

22:13 Uhr.

Esperanza schafft es gerade noch, sich in ihr Büro zu retten und die Tür zu verriegeln. Draussen hämmern Fäuste gegen das Türe und Fenster. Die Scheiben zittern unter den Schlägen.

„Licht! Wir brauchen Licht! Sofort!“, schreien die Stimmen im Chor. „Reparieren Sie das! Machen Sie Ihre Arbeit!“

Sie lehnt sich mit dem Rücken gegen die Tür und atmet schwer. Der Schweiss perlt auf ihrer Stirn. Fünfzehn Jahre hat sie gegen diese Lichtflut gekämpft. Aber dass die Abhängigkeit so tief sitzt? Menschen, die vor Panik weinen, weil ihr Bildschirme dunkel sind?

20:45 Uhr.

Esperanza zündet eine Kerze an. Im flackernden Licht betrachtet sie die Ordner voller ignorierter Petitionen, Zeitungsartikel, die niemand gelesen hat. Dokumente ihre jahrelangen Kampfes gegen Windmühlen.

Aber heute… wird heute ihr Traum wahr? Wieso auch immer.

Die Faustschläge verstummen allmählich. Schritte entfernen sich. Irgendwo in der Ferne hört sie noch vereinzelte Rufe: „Das ist alles deine Schuld!“

23:14 Uhr.

Esperanza schleicht durch den Hinterausgang ins Freie. Die Gassen von Malasaña sind gespenstisch leer. Nur vereinzelt huschen Gestalten im Schein von Taschenlampen vorbei. Auf der Suche nach funktionierenden Handyladestationen, offenen Geschäften, Strom.

Sie geht ziellos durch die dunklen Strassen. Diese sind ungewöhnlich leer – ohne funktionierende Ampeln fahren die wenigen Autos im Schrittverkehr. Madrid wirkt friedlicher.

Dann hört sie Lachen. Fröhliches Lachen. Aus der Richtung des Retiro-Parks kommt es. Wie ist das möglich? Jedermann scheint in Panik zu sein, und dort… dort wird gelacht?

00:31 Uhr.

Sie folgt den Stimmen. Sie durchquert die dunklen Alleen des Parks, vorbei an den stummen Wasserfontänen, den leeren Cafés. Im Herzen des Parks, auf der grossen Wiese nahe des Kristallpalastes, entdeckt sie sie. Eine surreale Versammlung im Mondenschein.

Ein alter Mann blickt durch sein Teleskop. Er wendet den Blick ab und den Menschen zu. Aufgeregt zeigt er gen Himmel: „Seht ihr das!“, spricht er aufgeregt. „Der Orionnebel! Nach Jahrzehnten kann man ihn endlich wieder sehen!“

Neben ihm liegt eine Frau mittleren Alters im Gras, die Augen geschlossen, ein seliges Lächeln auf den Lippen: „Meine Migräne ist weg. Einfach weg. Zum ersten Mal seit Monaten kann ich denken, ohne dass es in meinem Schädel hämmert.“

00:55 Uhr.

Die Schar der Versammelten wird immer grösser. Ein kleiner Junge zeigt seiner staunenden Schwester die Milchstrasse: „Schau, Lisa! Da oben wohnen Sternen-Feen!“

Eine Eule landet auf einem nahen Ast. „Hu hu“, ruft sie triumphierend in die Dunkelheit. „Hu hu hu“, antwortet eine andere aus der Ferne. Dann noch eine, und noch eine, und noch eine. Bald huhut ein ganzer Eulen-Chor.

„Hört ihr das?“, flüstert eine ältere Dame mit Tränen in den Augen. „Die Eulen sprechen wieder miteinander! Ich habe das seit Jahren nicht mehr gehört! Ich dachte, sie wären alle weggeflogen.“

Ein Bursche mit Baseball-Cap sitzt mit geschlossenen Augen an einen Baum gelehnt: „Normalerweise kann ich nie abschalten. Immer blinkt, piept, leuchtet etwas. In meinem Kopf, ein wahres Neon-Gewitter. Aber jetzt… jetzt ist es endlich still — Aaah, tut das gut.“

01:18 Uhr.

Fledermäuse tanzen über die Köpfe, schwarze Silhouetten im Sternenhimmel. Eine sagt: „Endlich können wir wieder richtig jagen! Keine grellen Farben mehr, die uns verwirren!“

Ein Krankenpfleger reckt die Arme in den Sternenhimmel. „Ich arbeite nachts in einem Krankenhaus. Stets umgeben von Neonlicht. Brennende Augen gehören da zum Alltag. Aber heute… heute entspannen sie sich wieder.“

Nachtfalter flattern zwischen den Menschen umher, landen vertrauensvoll auf ausgestreckten Händen. Einer flüstert: „Normalerweise verbrennen wir uns an euren Lampen.“

Es ist schon nach 01:30 Uhr.

Ein Igel tapst mutig über die Wiese. Die Kinder kichern und zeigen aufgeregt auf ihn. „Das sind die nachtaktive Tiere. Sie warten, bis unsere grelle Welt verstummt“, flüstert eine Mutter.

Menschen und Tiere, vereint im magischen Dunkel.

Ein alter Dichter mit zerzausten Haaren steht auf, erhebt die heisere Stimme: „Hört mich an! Zwanzig Jahre habe ich versucht, über die Nacht zu schreiben, aber die Worte kamen nicht. Die Lichter haben sie vertrieben. Heute habe ich sie wieder gefunden: Schwärze, Sternenglanz, Eulenruf, Schweigen.“

01:59 Uhr.

Esperanza gesellt sich zur bunten Schar „Ich bin Esperanza“, sagt sie. „Ich führe die Sociedad Española contra la Contaminación Lumínica. Seit einer gefühlten halben Ewigkeit kämpfe ich mit meinen Wegbegleitern gegen das uns quälende Licht.“

Spontaner Applaus bricht aus. Die Fledermäuse kreischen vor Freude. Die Eulen rufen. Sogar die Grillen zirpen lauter: „Du bist unsere Heldin!“

„Aber, den Stromausfall habe ich nicht verursacht“, sagt Esperanza lachend.

„Das spielt keine Rolle“, antwortet die Migränegeplagte und öffnet die Augen: „Du hast nie aufgegeben zu Hoffen. Du hast uns gezeigt, dass es auch anders geht. Du warst unsere Stimme der Dunkelheit. Du bist unsere Doña Quijote!“ Alle klatschen.

03:12 Uhr.

Esperanzas Geschichte macht bei den Feiernden die Runde. Auch beim Nachtschwärmer, der jahrelang Tabletten gegen Lichtempfindlichkeit schlucken musste und endlich ohne Schmerzen draussen sein kann. Und der lichtgeplagten Schlaflosen, welche endlich wieder träumt.

Eine alte Dame erzählt mit brüchiger Stimme: „Als ich klein war, gingen wir jeden Abend auf den Balkon und zählten Sterne. Mein Vater kannte alle Sternbilder. Aber heutzutage“ — sie seufzt — „schön wäre es. Aber heute Nacht… heute Nacht ist es wie damals in meiner Kindheit.“

03:40 Uhr.

Esperanza schaut um sich. Der Igel atmet ruhig und vertrauensvoll. Über ihr kreisen Fledermäuse wie schwarze Engel.

Man ist sich einig. So sollte jede Nacht sein.

Ein kleines Mädchen tuschelt mit seiner Mutter: „Können wir morgen wieder hierher kommen und Sterne gucken?“

04:07 Uhr.

Ein tiefes Summen in der Ferne. Dann – ein Flackern am Horizont. Erste Lichter gehen wieder an, kleine helle Punkte in der Schwärze.

Die Versammelten werden unruhig. Die Tiere heben die Köpfe, spüren, da bahnt sich etwas an.

„Es ist vorbei“, sagt jemand mit unendlicher Trauer in der Stimme.

04:09 Uhr.

Licht explodiert über Madrid wie eine grelle Bombe. Strassenlaternen erwachen mit aggressivem Weiss, Reklametafeln blinken gnadenlos, Bürotürme erstrahlen in kaltem Neon. Die grelle Realität erobert die Stadt zurück.

Als erste verschwinden die Tiere. Die Fledermäuse rauschen erschrocken in die Bäume, der Igel erschrickt und trippelt hastig ins Gebüsch. Die Eulen verstummen abrupt.

Die Menschen stehen langsam auf, wie Träumende, die unsanft geweckt werden.

In der Ferne hört man die Jubelschreie der Lichtjunkies. „Das Licht ist zurück! Instagram funktioniert wieder! Gott sei Dank!“

Hans Peter Flückiger, Juni 2025


Kurzvita

Hans Peter Flückiger. *1952, aus Solothurn (Schweiz). Arbeitete als Journalist, Reporter und Fotograf. Seit 2015 Autor literarische Texte. Schreibt Kurzgeschichten, Gedichte, Essays und Publikationen für Anthologien und Blogs. Erfolgreiche Teilnahme an Wettbewerben und Ausschreibungen.
Einen expliziten Bezug zu den Themen Dunkelheit – Nacht – Astronomie habe ich nicht. Ich sehe meine Motivation zum Schreiben darin, das Vordergründige und Naheliegende zu hinterfragen. Nach der Berichterstattung zum großen Stromausfall auf der Iberischen Halbinsel – in der vor allem von Problemen die Rede war – sagte ich mir, dass es doch auch Nutznießer in dieser tristen Geschichte geben muss. Und diese kommen – wie deren „Opfer“ – in meiner Geschichte zu Wort.

Hans Peter Flückiger hat mir seiner Kurzgeschichte „Doña Quijote und die Windmühlen des Lichts“ unseren Kurzgeschichtenwettbewerb 2024/2025 den zweiten Platz gewonnen.

Ich habe noch gelernt, wie man mit geschlossenen Augen schläft. Heute ist das eine ausgestorbene Kunst. Unsere Fenster dimmen das Licht nicht – sie multiplizieren es. Es kommt von draußen, von oben, von innen. Immer ist irgendwo etwas, das leuchtet. Sogar die Wände strahlen, seit das neue Lichtgesetz erlassen wurde. Dunkelheit gilt als gefährlich. Als rückständig. Als krankmachend. Ich weiß es besser.

Früher war ich Technikerin im Lichtamt. Ich habe das große Raster mitüberwacht, habe dafür gesorgt, dass kein Quadratmeter der Stadt in Schatten fiel. „Schatten sind das Tor zur Gewalt“, sagte mein Chef immer. Und alle nickten. Ich auch. Damals. Ich war sogar stolz. Einmal habe ich ein halbes Viertel reaktiviert, nachdem der Strom für 0,8 Sekunden ausfiel. Ich erhielt eine Auszeichnung. Heute brennt das Zertifikat in einem alten Karton unter meinem Bett – falls man mich fragt, ob ich je eine andere Meinung hatte.

Dann kam der Ausfall.

Es war eine dieser seltenen Störungen. Ein technischer Defekt, der sich durch die Rasterlogik schlich wie ein rostiger Splitter durch feines Gewebe. Erst flackerte es. Dann war es weg. Für exakt 81 Minuten. Ich erinnere mich, weil es die längsten meines Lebens waren.

Ich hatte Spätdienst. Sitzebene 12, Wartungsblock E. Um mich herum: flache Monitore, leuchtende Tische, das Surren von Kühlkreisläufen. Als alles dunkel wurde, war da zuerst: Panik. Jemand schrie. Jemand lachte. Jemand fiel vom Stuhl. Ich aber stand einfach nur da. Und sah.

Durch das Panzerglas unseres Kontrollzentrums sah ich hinaus auf die Stadt. Und da war sie – eine leuchtende Dunkelheit, wenn das Sinn ergibt. Ein Himmel, der nicht projiziert war. Kein Display. Keine Simulation. Nur… Sterne. Tausende. Millionen. So fern, dass sie mir vorkamen wie Erinnerungen.

Ich weiß nicht mehr, wie lange ich einfach nur dort stand. Ich vergaß zu atmen. Und als ich es wieder tat, war die Luft anders. Klarer. Schwerer. Als wäre sie endlich zur Ruhe gekommen.

Das Raster atmete wie eine zweite Haut. Lichtnerven, flüssige Leitbahnen aus Nano-Kristall, zogen sich durch Wände und Böden. Sobald ein Schatten länger als drei Sekunden bestand, wurde er gelöscht. Wir nannten das „Stabilisierungsschleife“. Ich nannte es später: Auslöschung.

Seit jenem Tag bin ich nicht mehr dieselbe. Ich arbeite nicht mehr für das Lichtamt. Offiziell bin ich in Langzeitkrankheit. Inoffiziell versuche ich zu erinnern. Ich habe begonnen, mit Menschen zu sprechen, die noch wissen, wie es war. Und mit denen, die es nie kannten.

Da ist zum Beispiel Ilayda, acht Jahre alt. Sie lebt im Betonturm an der Außenzone. Ihre Mutter arbeitet Nachtschicht, ihr Vater ist tot. Ilayda hat noch nie eine Kerze gesehen. Ich habe ihr eine gezeigt – heimlich. Sie hat sie „Licht, das atmet“ genannt.

Oder Herr Marquardt. 93, blind, ehemaliger Gärtner. Er spricht von Pflanzen wie von alten Freunden. „Die Dahlien blühen zu früh, meine Liebe“, sagt er. „Und die Birken verlieren ihre Blätter nicht. Sie wissen nicht mehr, wann der Winter kommt. Wir haben ihren Takt verloren.“

Einmal erzählte er mir, dass früher sogar die Pflanzen geschlafen haben. „Sie brauchten die Nacht zum Atmen“, sagte er. „Jetzt keuchen sie im Dauerlicht.“

Ich fragte ihn einmal, ob ihn die Lichtflut nicht wahnsinnig mache. Er lachte leise und sagte: „Ein Segen im Unglück. Ich sehe sie nicht. Nie gesehen. Ich erinnere, wie es war – in den Nächten in meinem Garten, mit dem Duft von Erde und dem Knistern der Stille. Die Dunkelheit lebt in mir weiter, weil ich sie nie verloren habe. Ich trage sie in mir – als Erinnerung, nicht als Mangel.“

Einmal hat er mir von einem nächtlichen Gewitter erzählt. Wie er den Regen auf der Haut spürte, das ferne Grollen hörte – und nichts sehen musste, um zu wissen, dass es schön war. „Es war, als würde die Welt durchatmen. Heute atmet sie nur noch flach.“

Und dann sind da die Tiere.

Die Straßen sind still. Keine Grillen. Keine Fledermäuse. Vögel zwitschern verwirrt um drei Uhr morgens. Eine Katze jagt ihrem Schatten hinterher, der nie ganz still steht. Die Natur ist aus dem Takt geraten, genau wie wir.

Eines Nachts, in meinem Dunkelraum, hörte ich plötzlich ein Flattern. Vorsichtig öffnete ich die Tür. Eine Eule saß auf der Treppe. Sie sah mich an – oder spürte mich. Und flog nicht fort. Als hätte sie geahnt, dass hier etwas war, das sie verstand. Am nächsten Morgen lag eine Feder auf der Matte. Ich habe sie aufgehoben. Sie riecht nach Moos und Zeit.

Ich erinnere mich an die Erklärung, die wir damals erhielten: „Die Lichtstruktur stabilisiert das Verhalten.“ Aber das Verhalten was? Der Menschen? Der Tiere? Der Gedanken? Nichts ist stabil. Alles flackert, auf eine andere Weise.

Ich schreibe das alles auf, in ein Heft aus echtem Papier. Ich habe es in einem verlassenen Antiquariat gefunden. Es riecht nach Staub und Regen. Beides gibt es kaum noch. Unsere Welt wurde sterilisiert, beleuchtet, kontrolliert. Aber manchmal – manchmal gelingt es mir, einen Ort zu schaffen, an dem es wieder dunkel wird.

Ich habe meinen Abstellraum umgebaut. Sensoren entfernt. Keine Projektionspaneele, keine Lichtnerven im Boden. Ich lege mich hinein, schließe die Tür – und dann: ist da nichts. Und dieses Nichts ist das friedlichste Etwas, das ich kenne.

Ilayda war auch schon dort. Nur ein paar Minuten. Sie kam wieder heraus mit einem Gesichtsausdruck, den ich nicht beschreiben kann. Vielleicht nennt man das Frieden.

Ich höre manchmal andere Kinder lachen. Hell, schrill. Als hätten sie nie etwas anderes gekannt. Aber wenn ich ihnen ein Bild male, von einem Himmel ohne Decke, werden sie ganz still.

Manche fragen, ob es den Himmel wirklich gab. Ich antworte nicht mit Worten. Ich schalte das Licht aus, halte ihre Hand – und warte. Meistens kommen dann Fragen, manchmal Tränen. Aber immer: Stille.

Letzte Woche war Herr Marquardt nicht mehr erreichbar. Ich habe später erfahren, dass er in ein betreutes Lichtzentrum gebracht wurde. „Zu viele Schatten in seinen Aussagen“, stand im Protokoll. Ich habe Angst, dass ich die Nächste bin.

Ein paar Tage danach besuchte mich Jara. Früher war sie meine Kollegin. Jetzt trägt sie eine silberne Weste mit dem Wappen der Lichtbehörde. Sie trat nicht ein – stand nur im Türrahmen. „Wir beobachten.“, sagte sie ruhig. „Du warst mal eine von uns. Benimm dich so.“

Ich antwortete nicht. Aber meine Hand lag auf der Feder. Sie fühlte sich schwer an in dem Moment – wie ein Versprechen.

Trotzdem habe ich angefangen, mein Wissen weiterzugeben. Ich flüstere Geschichten. Ich zeichne Sterne mit leuchtfreier Tinte auf Mauern. Ich bringe Kindern bei, wie man die Augen schließt – und trotzdem sieht.

Ilayda hat mir neulich eine Frage gestellt: „Glaubst du, dass die Sterne noch da sind, auch wenn wir sie nicht sehen?“ Ich habe geschwiegen. Dann habe ich gesagt: „Ich glaube, sie warten.“

Ich hoffe, dass sie noch lange warten können.

Vielleicht kommt der nächste Ausfall. Vielleicht länger. Vielleicht reicht er, um etwas zu verändern. Vielleicht auch nicht. Aber ich werde bereit sein. Ich werde anderen zeigen, was ich gesehen habe. Ich werde weiter Geschichten flüstern, weiter dunkle Räume bauen, weiter Sterne malen, die keiner sehen darf.

Heute lag ein Umschlag unter meiner Tür. Kein Absender. Innen: ein handgezeichneter Sternenhimmel. Keine Namen, nur Punkte. Und auf der Rückseite stand in feiner Schrift:

„Wir erinnern. Du bist nicht allein.“

Denn was wir vergessen haben, war keine Schwäche. Es war unser Ursprung.

Und die Nacht ist nicht unsere Feindin.

Sie ist das, was uns fehlt.

Sie ist unsere Hoffnungsdunkelheit.

Roswitha Böhm, Mai 2025


Kurzvita

Roswitha Böhm ist Autorin, Künstlerin und ein Stück kreative Weltverbesserin. Unter dem Namen Gedankenteiler verbindet sie Fantasie mit Tiefgang, Humor mit Haltung – in ihren Geschichten ebenso wie in handgemachten Unikaten. 2025 wurde sie für ihre Kurzgeschichte „Ewig verbunden“ mit dem 2. Platz beim Marburg-Award ausgezeichnet.

Roswitha Böhm hat mir ihrer Kurzgeschichte „Hoffnungsdunkelheit“ unseren Kurzgeschichtenwettbewerb 2024/2025 den ersten Platz gewonnen.

Liebe Freund*Innen der Nacht,

Das Ergebnis des Kurzgeschichtenwettbewerbs 2024/25 ‘Willkommen auf der dunklen Seite der Nacht‘ steht fest. Das Team war beeindruckt von der Vielfalt der Themen zum Thema, gerade auch, weil wir hier die Bereitschaft von Menschen und besonders von Schreibenden sahen, die sich den Herausforderungen der neuen Realität auf unserem Planeten stellen, kritisch hinterfragen und nach kreativen Lösungsansätzen suchen. Dafür von unserer Seite einen ganz herzlichen Dank.

Die Gewinner*Innen wurden bereits von uns entsprechend benachrichtigt.

Wir bedanken uns bei allen für die Teilnahme – auch wenn es dieses Mal noch nicht bis in die Longlist und dann Shortlist reichte. Wir hoffen, dass wir auch beim nächsten Mal wieder viele inspirierende Einsendungen von euch bekommen werden.

Doch jetzt genug der Worte. Hier kommen die Gewinner*Innentexte:

1. Platz: Hoffnungsdunkelheit von Roswitha Böhm
2. Platz: Doña Quijote und die Windmühlen des Lichts von Peter Flückinger
3. Platz: Die Dunkelheit von Jörg Ehrnsberger
3. Platz: Die Dunkelkröte von Teresa Steidele

Dieses Jahr entschieden wir uns im Team, vier Geschichten einen Sonderpreis in Form einer Veröffentlichung auf unserer Homepage zu verleihen: In einer Zeit, in der viele Menschen wegsehen und ihrem business-as-usual folgen, wollen wir einige unter euch für euer Engagement würdigen, indem wir euren Geschichten Sichtbarkeit geben.

  • Tanzende Sterne von Jelena Moesus
  • Künstliche Sterne von Sabine Geschka
  • Das Wunder der Nacht von Christian Knieps
  • Licht aus für Merope von Rea Sommer

Wir wünschen viel Spaß beim Lesen.
Die Geschichten werden wir in den nächsten Tagen entsprechend veröffentlichen.

Willkommen auf der dunklen Seite der Nacht

Auch in diesem Jahr laden wir, die Aktiven der Dark Sky Nord – Bremen und Umzu alle kreativen Enthusiasten der Dunklen Nacht dazu ein, Ihren Geschichten eine Plattform zu geben.

Halten Sie Ihre Ideen und Vorstellungen über die natürliche Dunkelheit und die Schönheit der Nacht fest. Packen Sie sie in emotionale, tiefsinnige, originelle, heitere und/oder dramatische Kurzgeschichten! (s. Teilnahmebedingungen unten)

Warum Fiction? Ist Lichtverschmutzung nicht ein Thema für die Naturwissenschaften und die Politik?

Die wenigsten unter uns haben den Bericht vom Weltklimarat (IPCC – Intergovernmental Panel on Climate Change) gelesen und doch wissen wir alle, dass ‘das Haus brennt’. Doch wie können wir die brenzlige Situation den Menschen näherbringen? Durch Geschichten. Das kennen wir alle, seit wir die ersten Lagerfeuer erfanden und die Unbilden des Tages in kurze Sätze packten, die jede/r verstand und nachvollziehen konnte. So auch zum Thema ALAN (artificial night at night), das sofort mit Biodiversität, Technologie, Gesundheit etc, also mit naturwissenschaftlichen Themen in Verbindung gebracht wird. Doch genau dieses Verständnis für unser Weltkulturerbe ‘natürlich dunkler Nachthimmel’ wollen wir jetzt auch über Geschichten vermitteln.

Und dafür brauchen wir Ihre Kreativität.

Was ist ALAN genau?

ALAN oder auch Lichtverschmutzung ist ein noch unterschätztes Phänomen unserer so genannten 24/7 Gesellschaft, die die Nacht zum Tag macht: Carpe Noctem.

Nur sehr langsam werden wir uns der Auswirkungen z. B. auf die Gesundheit, die Biodiversität, den Energieverbrauch, das Weltkulturerbe bewusst. Durch die ‘Energiekrise’ ist die künstliche Beleuchtung in der Nacht sozusagen über Nacht zu einem Thema geworden, welches Einsparungspotenzial verspricht, aber auch mit dem Verzichtsnarrativ eng gekoppelt ist.

Die natürliche Dunkelheit ist ein Refugium für nachtaktive Lebewesen und der Erholungsraum für die tagaktiven Geschöpfe. Sprechen wir allerdings über die Dunkelheit, dann verbinden wir sie unvermittelt mit Gefahr, Rückständigkeit, Boshaftigkeit (dunkle Gedanken), Kriminalität und Verzweiflung. Schnell ist jemand ‘umnachtet’ oder dumm wie die Nacht. Ereignisse werfen einen dunklen Schatten voraus und passiert uns etwas Unangenehmes, sprechen wir von den Schattenseiten des Lebens.

Und was ist mit der Schönheit der natürlichen Nacht?

Rilke wusste es. Novalis auch.

Keiner spricht von der Dunkelheit am Ende des Tunnels, niemand wagt es, dort hineinzutreten. Keiner schreibt Epen über glorreiche Ritter des dunklen Grals, niemand träumt von Heldentaten zum Schutz der umhüllenden Nacht, der Ruhe und dem Frieden für die Augen und der Seele, dem heilenden Schlaf in der natürlichen Dunkelheit.‘ (s. Blog – fiction: Die beruhigenden Eigenschaften der Dunkelheit)

Wir haben unsere Verbindung zur natürlichen Dunkelheit auch in unserer Sprache verloren.

Und deshalb laden wir Sie ein, der Nacht positive Konnotationen zu schenken und die zweite Tageshälfte in Texten zu ihrer Schönheit zurückzuführen.

Natürlich darf die/der AutorIn kontrastieren, d. h. auch Geschichten mit ‘schweren’ Themen sind erwünscht. Doch vergessen Sie bitte nicht umzudenken.

Was gibt es zu gewinnen?

  1. Der wichtigste Preis: Sie werden als WegbereiterIn ein unterschätztes Thema vielen Menschen näherbringen und betreten ein neues Podium im Bereich Fiction. Durch die Veröffentlichung auf unserer Homepage wird eine breite Leserschaft Ihr Werk kennenlernen. Und auch auf unseren Vorträgen werden wir Ihre Geschichte, Ihre Sicht auf die Schönheit der Nacht den Menschen näherbringen.
  2. Der erste Preis ist eine Sternenführung mit Sabine Frank im Biosphärenreservat Rhön (von der International Dark Sky Association (IDA) anerkannter Sternenpark). Sabine Frank ist Sternenparkkoordinatorin im Biosphärenreservat und eine Verfechterin der natürlichen Dunkelheit. Sie berät überregional Städte, Kommunen und Gemeinden die öffentliche und auch die private Beleuchtung nachhaltig zu gestalten und unterstützt viele Organisationen aus dem Dark Sky Bereich mit ihrer Kompetenz.
  3. Der zweite Preis ist das Buch des Astrofotografen Bernd Pröschold: Reiseziel Sternenhimmel: Die dunkelsten Beobachtungsplätze in Deutschland und Europa. Bernd Pröschold ist einem größeren Publikum durch astronomische Zeitraffervideos bekannt geworden. Er arbeitet mit einer Technik, die unter dem Schlagwort „Holy Grail Timelapse“ bekannt wurde. Er ist Mitglied im Fotografennetzwerk TWAN (The World at Night).
  4. Der dritte Preis ist eine Semlos Leselampe, Augenschutz Bernstein Klemmlampe für ein augenschonendes Schreiben und Lesen und einen sich anschließenden gesunden Schlaf.

Rahmenbedingungen

Eingereicht werden kann pro TeilnehmerIn nur ein bisher nicht in einem Printmedium oder digital veröffentlichter Text.  

Zu Ihrem Beitrag senden Sie bitte eine kurze Vita ein (u. a. mit Namen, bisheriger literarischer / künstlerischer Werdegang, Bezug zu den Themen Dunkelheit – Nacht – Astronomie – Webseite etc.), die bei einer Veröffentlichung mit abgedruckt werden kann/soll. Eine anonyme oder die Veröffentlichung unter Pseudonym ist aber auch möglich. Bitte teilen Sie es uns mit.

Zudem senden Sie bitte separat, rein für die interne Verwendung, Ihre Kontaktdaten mit: Name, Adresse, E-Mail-Adresse, Telefonnummer und auch nochmal den Titel Ihrer Kurzgeschichte zur besseren Zuordnung und Arbeitserleichterung.

Mit der Teilnahme an dem Wettbewerb versichern die TeilnehmerInnen, dass der eingesandte Beitrag selbst verfasst ist und keine Rechte Dritter verletzt werden. Des Weiteren erklären sich die TeilnehmerInnen damit einverstanden, dass der Textbeitrag (im Ausschnitt oder komplett – zu Werbezwecken) auf der Homepage der Dark Sky Nord – Bremen und Umzu – Initiative für nachhaltige Außenbeleuchtung und andere Medien (z. B. unserem Werbeflyer, Roll-Ups) und auf Vorträgen veröffentlicht wird. Es verbleiben alle Rechte bei den AutorInnen. Der Dark Sky Nord wird lediglich ein nichtexklusives Abdruckrecht (print – Werbeflyer – digital – Homepage) eingeräumt, räumlich und zeitlich unbegrenzt. Die AutorInnen können also weiterhin über den eigenen Text ansonsten frei verfügen.

Ein Anspruch auf ein Honorar besteht nicht.

Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass wir keine Stellungnahmen zu einzelnen Texten geben werden.

  • Die Text-Beiträge bitte ausschließlich als WORD-Dokument elektronisch einsenden – kein PDF
  • Max 10.000 ZeichenOHNE Leerzeichen
  • Schriftart: Segoe Ul
  • Schriftgröße: 12 pt
  • Zeilenabstand: 1,5
  • Ohne Zeilen-Nummerierung
  • Texteinsendungen, die von den genannten Rahmenbedingungen abweichen, können wir nicht berücksichtigen.

Einsendeschluss: Sommersonnenwende am 21. Juni 2025

E-Mail-Adresse: alan-fiction@darksky-nord.de

Die Bekanntgabe der Gewinner wird am 13. August 2025 erfolgen.

Im Universum ist keine Angst

Ich bin in Dresden geboren – an einem heißen Sommertag im Juli – früh ehe die Sonne
aufging. „Komm mit nach Dresden“, hat meine Großmutter gesagt, „da wohnt Churchills
Großmutter, da passiert nichts.“ Sie war extra nach Bremen gekommen, um ihrer Tochter bei der
Geburt beizustehen – aber in Bremen fielen nachts Bomben auf Dächer von Wohnhäuser. „Komm
mit nach Dresden ..!“ Der Zug war am 1. Juli gedrängt voll, blieb stehen, immer wieder blieb er
stehen. Bei jedem Halt kam der Schaffner: „Geht es noch, junge Frau?“ Am 4. Juli 1942 wurde ich
geboren in einer kleinen Klinik in der Liebigstraße.

Heute ist der 23. Februar 2023. Heute ist alles anders – nicht Churchills Großmutter, nur ich:
Großmutter. Keine Bomben – hier. Frieden. Demokratie. Meinungsfreiheit. Haben wir doch! Oder
haben die Genossen ein Schloss vor dem Mund und werden gar nicht gefragt, wenn Papa Scholz
seine Marder in die Ukraine schickt? Also, wir Genossen von Schönebeck treffen uns heute – ich
will in kleinem Kreis sprechen über Meinungsfreiheit: Warum wurde am 14. Februar über meinen
Antrag zu ‚Meinungsfreiheit‘ nicht abgestimmt? Warum wurde die Begründung zu meinem Antrag
nicht für alle ausgedruckt? Meinungsfreiheit – haben wir doch! Ich werde doch gar nicht von der
Gestapo abgeholt, wenn ich darüber sprechen will – mit den Genossen!

Ich mache mich zu Fuß auf den Weg zur Schlosskate – da treffen wir uns – welche Meinung
habt ihr eigentlich zu den Waffenlieferungen in die Ukraine? – darüber denke ich nach auf dem
Fußweg: erst Fährgrund, dann Borchshöhe. Es ist kalt. Die Welt ist schwarz – nur irgendwo über
den Straßenlaternen, weit weg, leuchtet die Mondsichel wie eine einsame Straßenlaterne. Aber ich
habe mich im Datum geirrt, heute ist gar kein Treffen. Die Schlosskate ist dunkel. Erleichterung, ich
muss heute gar nicht streiten!

Ich gehe weiter – vorbei am Schönebecker Schloss. Die Welt ist hier licht ohne Straßenlaternen,
der Weg ist hell. Vor mir begleitet mein Schatten mich schwarz. Über mir – weit oben –
schwimmt der Mond in der Tiefe des Universums – unendliches Blau, besetzt mit Diamanten, mit
Sternen – nur wenige setzen sich durch gegen das goldene Halbrund Mond. Der beleuchtet Schloss,
Erde und Himmel, der Weg hell wie das Wasser, darüber zieht der Große Wagen sehr blass seine
Bahn – so wie gelegentlich winzige Lichtpunkte, Autoscheinwerfer hinter den Waldbäumen auf der
Straße nach Leuchtenburg.

Mir fällt ein – eine Sommernacht in der Provence – Sterne – vollkommen – unendlich viele
– Diamanten – blass leuchtende Perlen – große und kleine – ich liege im warmen Gras, ich höre
Zirpen, Zikaden – wie weit – unfassbar – Himmel und Erde – ich staune …

Es ist kalt. Mein Mantel hält mich wohl warm, aber ich will nach Hause. Ich zweige ab über
die Brücke – nun wandert mein Schatten über die Schattenzweige zu meinen Füßen auf
mondhellem Weg, Baumstämme steigen neben mir bis in winterlich blattloses Gezweig vor
leuchtendem Himmel – unendlich tief – blau. Dann Häuser. Erleuchtete Fenster – die Welt ist
wieder eng geworden und dunkel und hört auf in der Höhe von Straßenlaternen. Auf dem
Ziegenweg blendet mich ein Autoscheinwerfer.

Als ich 2014 nach Vegesack zog, nähte ich blickdichte Vorhänge für meine Fenster wegen
der Straßenlampen vom Fährgrund. Nachts will ich ruhig schlafen. Nachts fahren nur wenige Autos
– ihr Laut wird fast geschluckt von den Dreifach-Fenstergläsern. Eigentlich wollte ich auf keinen
Fall eine Straße vorm Fenster! Aber die Wohnung sprach zu mir, wurde mein Raum, trotz Straße.
Man gewöhnt sich an alles. Ich schlafe gut und lange. Einmal wache ich auf von einem Plopp –
Plopp – immer wieder, das dauert – ich neugierig: drüben landet mit Plopp ein Karton nach dem
anderen aus einem Lastwagen auf dem Fahrradweg. Gespenster zieht ein Afrikaner aus den Kästen,
nämlich wehende Plastik-Fahnen, die knüllt er zusammen. Was passiert da? Schnell ziehe ich mich
an, komme gerade rechtzeitig, um zu fotografieren, wie der aus Albanien die Leiter von seinem
blauen Leiter-Wagen hochkurbelt zur Straßenlaterne. Er spricht gut deutsch. Er lädt mich ein zum
Gottesdienst nach Woltmershausen, jeden Freitag, er will mich sogar mit dem Auto abholen. Ich
schreibe mir seine Handynummer auf, aber ich verspreche nichts. Tatsächlich benutze ich sie nie,
sehe auch nicht die www.Adresse von dem Afrikaner an – es gibt einfach zu viele interessante
Menschen hier mit Heimat weit weg. „Wir tauschen die Straßenlaternen aus“, erklären sie mir, „Sie
bekommen nun LED-Lampen, nachts taghell!“ Ich sage: „Das will ich gar nicht! Ich will doch
nachts schlafen!“ Tatsächlich haben die Scheinwerfer, die sie aus den Plastik-Gespenstern
entwickelt haben, das Plopp-Plopp-Werfen heil überstanden und beleuchten die Straße Fährgrund
seitdem deutlich weniger hell als ihre Vorgänger – beruhigend.

Aber wenn ich abends auf meiner Terrasse nach den Sternen sehe, muss ich mich vorsichtig
bewegen. Sonst springt der Bewegungsmelder an und schluckt alles, was der Lichtsmog über der
Stadt noch erscheinen lässt. Manchmal bewegt sich ein Stern ganz schnell über den Himmel, das ist
dann die ISS, ein künstlicher Stern, Menschen-gemacht, Fussballfeld-groß. Wenn ein Astronaut nach
einem halben Jahr Schwerelosigkeit ausgetauscht worden ist, lächelt er in die Kamera – glücklich
für die Pressefotografen – vom Tragesessel aus, mit dem er programmgemäß nun ins Krankenhaus
gebracht wird – wo sein Körperraum programmgemäß nun wieder justiert wird für das Dasein auf
Mutter Erde. Man kann ja alles machen. Man kann sich dabei auch ent-erden – krank werden –
macht doch nichts! – wir haben doch keine Angst!

Doch. Ich bin aus Fleisch und Blut. Ich habe Angst – vor allem wegen der Nachricht, dass
sie auf dem Mond nun suchen wollen nach Seltenen Erden – für LED – oder Handys – oder so. Wer
zuerst oben ist, der malt zuerst. Genossen, wir sind ent-erdet! Wir sind besoffen von dem, was man
machen kann! Krieg ist doch keine heilsame Entziehungskur! Der Krieg in Syrien nicht. Der Krieg
der Sterne auch nicht. Wir sind alle ent-erdet von den vergangenen Kriegen.

Übrigens, die Liebigstraße in Dresden gibt es noch – sie wurde nicht zerbombt 1945 in den
Feuernächten. Aber die kleine Klinik, in der ich zur Welt kam, habe ich 2013 nicht gefunden, nur
eine kleine Konditorei – einen Kaffee, ein Stück ganz süßen Kuchen. Bevor ich löffelte, ging meine
Seele fremd – erinnerte sich – mich – an meine Ankunft auf Mutter Erde – meine Seele ging fremd
– in einem unendlichen Sternenraum – verloren – ungeerdet – lange – ohne Angst –

Angst ist dort nicht, Angst ist verbunden mit Fleisch und Blut.
Suchen Astronauten ein Dasein ohne Angst? – schwerelos – ent-erdet? Vergeblich!

Angst war nicht in meinem Erinnern – sondern verlorenes Irren im Universum – unangesehen.
Meine Mutter hatte mich nicht angesehen, sie begrüßte mich nicht im Dasein.

Bis ich die Augen aufschlug, jetzt, 2013, in der Liebigstraße, bei Kaffee und tröstlichem Kuchen.
Ja. Meine Mutter hat mich dann doch angesehen, begrüßt, mich, das Mädchen. Nur ein Mädchen.
Nicht das Fritzchen, auf das sie sich gefreut hatte. Diese Freude ist Kraft für ein ganzes Leben – für
meinen Kampf um Meinungsfreiheit, jetzt, achtzig Jahre später. Genossen, wir können fast alles
machen. Wir können auch aufhören den enterdeten Machern zu glauben, dass sie unsere Angst im
Leben besiegen.

Wir müssen das Leben auf der Erde selbst wagen, jeder und jede für sich.
Das weite Universum ist immer da – über den Straßenlaternen, die unseren Raum einengen.

Heide Marie Voigt


Heide Marie Voigt hat mit ihrem Text „Sternenhimmel“ eben falls den dritten Platz unseres MicroAmberFiction Schreibwettbewerbes gewonnen.

Die Künstlerin Isolde wanderte ziellos hinaus in die Dämmerung, sodann schlug sie den Weg zum Strand ein. Sie sah die Wolken ziehen, schmeckte die salzige Luft, hörte die ferne Brandung rauschen und die Wellen aufschlagen. Im feuchten Sand des Spülsaums zeichneten sich ihre Fußspuren ab. Einige der tiefen Fußabdrücke blieben zurück, andere verwischten die Wogen. Isolde empfand es als Spiegelbild ihres Lebens. Was würde dereinst von ihr bleiben, von ihrem künstlerischen Ausdruck? Diese tiefgründigen Gedanken beflügelten ihre Sinne. Sie wähnte sich im vollen Einklang mit ihrer Welt und gab sich den Wachträumen hin. So verlor sie sich in der Zeit.

Wind wehte von See her, fröstelnd zog sie den Jackenkragen höher. Dabei legte sie wie zufällig den Kopf in den Nacken. War sie bisher wie eine Traumwandlerin unterwegs? Wie eine Blinde? Die Nacht war hereingebrochen, sie bemerkte die Dunkelheit erst jetzt und wunderte sich angesichts des Sternenfunkelns. Mein Gott wie schön! Derart hatte sie den Nachthimmel nie erlebt, in ihrer lichtverschmutzen Großstadt.

Hier auf der Insel Juist, in der Schwärze der klaren Herbstnacht glänzte das schier grenzenlose Band der Milchstraße über ihr. Das magische Licht in voller galaktischer Prachtentfaltung zu erleben, empfand sie so majestätisch. Ihr war, als träumte sie immerzu. Dieses Bild berührte sie zutiefst. Sie kramte in ihren Erinnerungen, dort tauchte kein Zauber dieser Art auf. Wie gerne hätte sie den Geliebten an ihrer Seite, um diesen heiligen Augenblick mit ihm zu teilen.

Im Windschatten einer Düne setzte sie sich in den Sand und sah hinaus aufs Meer. Ließ das ewige Kommen und Gehen der Wellen auf sich wirken. Das Rauschen erschien ihr endlos wie der grenzenlose Nachthimmel über ihr. Ist es nicht von alters her überliefert, dass die Sternenkonstellationen für Menschenschicksale eine maßgebliche Bewandtnis haben? Der silbrige Schein des Mondes beleuchtete das Meer, reflektierte das Licht im Auf und Ab der Wogen. Ebbe und Flut, die anziehende Rolle des Erdtrabanten im kosmischen Spektakel kennen die Menschen der Meeresküsten genau.

Isolde erhob sich, klopfte den Sand aus den Kleidern. Ein letzter Blick noch in den Sternenhimmel. In jenem Augenblick bedauerte sie es, dass sie von Sternenkunde keine Ahnung hatte. Sie schob diesen Gedanken beiseite und überlegte, wie es ihr gelänge, die magisch einsame Nacht am Strand künstlerisch umzusetzen. Und überhaupt, hatte sie nicht eben herausgefunden, was das »Zauberland« ausmacht? Sie hatte ein Stückchen vom geheimnisvollen alten »Töwerland« erlebt!

Reingard Stein, 11. April 2023


Reingard Stein hat mit ihrem Text „Töwerland – Zaubernacht“ den dritten Platz unseres MicroAmberFiction Schreibwettbewerbes gewonnen.

Atemlose Stille durchdrang die weite unendliche Landschaft.

Mein Atem gefror zu Eis.

Ich stand unter einem über und über funkelndem Nachthimmel und betrachtete das Firmament.

Solch einen Sternenhimmel hatte ich noch nie erblickt!

Ich war wie gebannt, verzaubert….

Der reine, klare Nachthimmel über Taizé war einfach atemberaubend schön.

Keine Straßenlaterne, kein Verkehr, keine erleuchteten Fenster störten dieses unglaubliche Bild.

Tausende und abertausende, ja, wohl Millionen von Sternen weit entfernter Galaxien strahlten dicht an dicht, funkelten, flackerten, manche als kleine weiße Punkte, andere leicht bläulich oder rötlich.

Wie es im unendlichen Weltall, auf fernen Planeten wohl aussehen mag?

Und eventuell andere Lebensformen?

Gerne wäre ich jetzt mit Warpgeschwindigkeit durch den Raum geflogen oder hätte mich in fremde, unbekannte Welten bebeamt. Oder würde einen Blick durch ein riesiges Teleskop werfen. Was ich dann wohl erblicken würde?

Mein Herz wurde ganz still und ruhig, ja, ehrfürchtig über der gewaltigen Schönheit des millionenfach wie Diamanten glitzerenden Sternenhimmels.

Für immer schloss ich diesen Anblick in mein Herz ein, ein Bild für die Ewigkeit!

Die Zeit stand still.

Brigitte Schweizer 10/01/23


Brigitte Schweizer hat mit ihrem Text „Sternenhimmel über Taizé“ den zweiten Platz unseres MicroAmberFiction Schreibwettbewerbes gewonnen.