Hoffnungsdunkelheit

18. August 2025 by Sascha

Ich habe noch gelernt, wie man mit geschlossenen Augen schläft. Heute ist das eine ausgestorbene Kunst. Unsere Fenster dimmen das Licht nicht – sie multiplizieren es. Es kommt von draußen, von oben, von innen. Immer ist irgendwo etwas, das leuchtet. Sogar die Wände strahlen, seit das neue Lichtgesetz erlassen wurde. Dunkelheit gilt als gefährlich. Als rückständig. Als krankmachend. Ich weiß es besser.

Früher war ich Technikerin im Lichtamt. Ich habe das große Raster mitüberwacht, habe dafür gesorgt, dass kein Quadratmeter der Stadt in Schatten fiel. „Schatten sind das Tor zur Gewalt“, sagte mein Chef immer. Und alle nickten. Ich auch. Damals. Ich war sogar stolz. Einmal habe ich ein halbes Viertel reaktiviert, nachdem der Strom für 0,8 Sekunden ausfiel. Ich erhielt eine Auszeichnung. Heute brennt das Zertifikat in einem alten Karton unter meinem Bett – falls man mich fragt, ob ich je eine andere Meinung hatte.

Dann kam der Ausfall.

Es war eine dieser seltenen Störungen. Ein technischer Defekt, der sich durch die Rasterlogik schlich wie ein rostiger Splitter durch feines Gewebe. Erst flackerte es. Dann war es weg. Für exakt 81 Minuten. Ich erinnere mich, weil es die längsten meines Lebens waren.

Ich hatte Spätdienst. Sitzebene 12, Wartungsblock E. Um mich herum: flache Monitore, leuchtende Tische, das Surren von Kühlkreisläufen. Als alles dunkel wurde, war da zuerst: Panik. Jemand schrie. Jemand lachte. Jemand fiel vom Stuhl. Ich aber stand einfach nur da. Und sah.

Durch das Panzerglas unseres Kontrollzentrums sah ich hinaus auf die Stadt. Und da war sie – eine leuchtende Dunkelheit, wenn das Sinn ergibt. Ein Himmel, der nicht projiziert war. Kein Display. Keine Simulation. Nur… Sterne. Tausende. Millionen. So fern, dass sie mir vorkamen wie Erinnerungen.

Ich weiß nicht mehr, wie lange ich einfach nur dort stand. Ich vergaß zu atmen. Und als ich es wieder tat, war die Luft anders. Klarer. Schwerer. Als wäre sie endlich zur Ruhe gekommen.

Das Raster atmete wie eine zweite Haut. Lichtnerven, flüssige Leitbahnen aus Nano-Kristall, zogen sich durch Wände und Böden. Sobald ein Schatten länger als drei Sekunden bestand, wurde er gelöscht. Wir nannten das „Stabilisierungsschleife“. Ich nannte es später: Auslöschung.

Seit jenem Tag bin ich nicht mehr dieselbe. Ich arbeite nicht mehr für das Lichtamt. Offiziell bin ich in Langzeitkrankheit. Inoffiziell versuche ich zu erinnern. Ich habe begonnen, mit Menschen zu sprechen, die noch wissen, wie es war. Und mit denen, die es nie kannten.

Da ist zum Beispiel Ilayda, acht Jahre alt. Sie lebt im Betonturm an der Außenzone. Ihre Mutter arbeitet Nachtschicht, ihr Vater ist tot. Ilayda hat noch nie eine Kerze gesehen. Ich habe ihr eine gezeigt – heimlich. Sie hat sie „Licht, das atmet“ genannt.

Oder Herr Marquardt. 93, blind, ehemaliger Gärtner. Er spricht von Pflanzen wie von alten Freunden. „Die Dahlien blühen zu früh, meine Liebe“, sagt er. „Und die Birken verlieren ihre Blätter nicht. Sie wissen nicht mehr, wann der Winter kommt. Wir haben ihren Takt verloren.“

Einmal erzählte er mir, dass früher sogar die Pflanzen geschlafen haben. „Sie brauchten die Nacht zum Atmen“, sagte er. „Jetzt keuchen sie im Dauerlicht.“

Ich fragte ihn einmal, ob ihn die Lichtflut nicht wahnsinnig mache. Er lachte leise und sagte: „Ein Segen im Unglück. Ich sehe sie nicht. Nie gesehen. Ich erinnere, wie es war – in den Nächten in meinem Garten, mit dem Duft von Erde und dem Knistern der Stille. Die Dunkelheit lebt in mir weiter, weil ich sie nie verloren habe. Ich trage sie in mir – als Erinnerung, nicht als Mangel.“

Einmal hat er mir von einem nächtlichen Gewitter erzählt. Wie er den Regen auf der Haut spürte, das ferne Grollen hörte – und nichts sehen musste, um zu wissen, dass es schön war. „Es war, als würde die Welt durchatmen. Heute atmet sie nur noch flach.“

Und dann sind da die Tiere.

Die Straßen sind still. Keine Grillen. Keine Fledermäuse. Vögel zwitschern verwirrt um drei Uhr morgens. Eine Katze jagt ihrem Schatten hinterher, der nie ganz still steht. Die Natur ist aus dem Takt geraten, genau wie wir.

Eines Nachts, in meinem Dunkelraum, hörte ich plötzlich ein Flattern. Vorsichtig öffnete ich die Tür. Eine Eule saß auf der Treppe. Sie sah mich an – oder spürte mich. Und flog nicht fort. Als hätte sie geahnt, dass hier etwas war, das sie verstand. Am nächsten Morgen lag eine Feder auf der Matte. Ich habe sie aufgehoben. Sie riecht nach Moos und Zeit.

Ich erinnere mich an die Erklärung, die wir damals erhielten: „Die Lichtstruktur stabilisiert das Verhalten.“ Aber das Verhalten was? Der Menschen? Der Tiere? Der Gedanken? Nichts ist stabil. Alles flackert, auf eine andere Weise.

Ich schreibe das alles auf, in ein Heft aus echtem Papier. Ich habe es in einem verlassenen Antiquariat gefunden. Es riecht nach Staub und Regen. Beides gibt es kaum noch. Unsere Welt wurde sterilisiert, beleuchtet, kontrolliert. Aber manchmal – manchmal gelingt es mir, einen Ort zu schaffen, an dem es wieder dunkel wird.

Ich habe meinen Abstellraum umgebaut. Sensoren entfernt. Keine Projektionspaneele, keine Lichtnerven im Boden. Ich lege mich hinein, schließe die Tür – und dann: ist da nichts. Und dieses Nichts ist das friedlichste Etwas, das ich kenne.

Ilayda war auch schon dort. Nur ein paar Minuten. Sie kam wieder heraus mit einem Gesichtsausdruck, den ich nicht beschreiben kann. Vielleicht nennt man das Frieden.

Ich höre manchmal andere Kinder lachen. Hell, schrill. Als hätten sie nie etwas anderes gekannt. Aber wenn ich ihnen ein Bild male, von einem Himmel ohne Decke, werden sie ganz still.

Manche fragen, ob es den Himmel wirklich gab. Ich antworte nicht mit Worten. Ich schalte das Licht aus, halte ihre Hand – und warte. Meistens kommen dann Fragen, manchmal Tränen. Aber immer: Stille.

Letzte Woche war Herr Marquardt nicht mehr erreichbar. Ich habe später erfahren, dass er in ein betreutes Lichtzentrum gebracht wurde. „Zu viele Schatten in seinen Aussagen“, stand im Protokoll. Ich habe Angst, dass ich die Nächste bin.

Ein paar Tage danach besuchte mich Jara. Früher war sie meine Kollegin. Jetzt trägt sie eine silberne Weste mit dem Wappen der Lichtbehörde. Sie trat nicht ein – stand nur im Türrahmen. „Wir beobachten.“, sagte sie ruhig. „Du warst mal eine von uns. Benimm dich so.“

Ich antwortete nicht. Aber meine Hand lag auf der Feder. Sie fühlte sich schwer an in dem Moment – wie ein Versprechen.

Trotzdem habe ich angefangen, mein Wissen weiterzugeben. Ich flüstere Geschichten. Ich zeichne Sterne mit leuchtfreier Tinte auf Mauern. Ich bringe Kindern bei, wie man die Augen schließt – und trotzdem sieht.

Ilayda hat mir neulich eine Frage gestellt: „Glaubst du, dass die Sterne noch da sind, auch wenn wir sie nicht sehen?“ Ich habe geschwiegen. Dann habe ich gesagt: „Ich glaube, sie warten.“

Ich hoffe, dass sie noch lange warten können.

Vielleicht kommt der nächste Ausfall. Vielleicht länger. Vielleicht reicht er, um etwas zu verändern. Vielleicht auch nicht. Aber ich werde bereit sein. Ich werde anderen zeigen, was ich gesehen habe. Ich werde weiter Geschichten flüstern, weiter dunkle Räume bauen, weiter Sterne malen, die keiner sehen darf.

Heute lag ein Umschlag unter meiner Tür. Kein Absender. Innen: ein handgezeichneter Sternenhimmel. Keine Namen, nur Punkte. Und auf der Rückseite stand in feiner Schrift:

„Wir erinnern. Du bist nicht allein.“

Denn was wir vergessen haben, war keine Schwäche. Es war unser Ursprung.

Und die Nacht ist nicht unsere Feindin.

Sie ist das, was uns fehlt.

Sie ist unsere Hoffnungsdunkelheit.

Roswitha Böhm, Mai 2025


Kurzvita

Roswitha Böhm ist Autorin, Künstlerin und ein Stück kreative Weltverbesserin. Unter dem Namen Gedankenteiler verbindet sie Fantasie mit Tiefgang, Humor mit Haltung – in ihren Geschichten ebenso wie in handgemachten Unikaten. 2025 wurde sie für ihre Kurzgeschichte „Ewig verbunden“ mit dem 2. Platz beim Marburg-Award ausgezeichnet.

Roswitha Böhm hat mir ihrer Kurzgeschichte „Hoffnungsdunkelheit“ unseren Kurzgeschichtenwettbewerb 2024/2025 den ersten Platz gewonnen.

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