Das Erste, was mir auffiel, war die Motte. Sie sollte mit ihren Schwestern um die Straßenlaterne vor dem Haus fliegen, in immer engeren Kreisen, bis sie ermattet abstürzt. Schön ist das nicht, besonders für die Motte, aber ihr kleines Insektengehirn ist es eben so verdrahtet, dass es gut erscheint, in Richtung Licht zu fliegen. War es auch lange, bis der Mensch kam, das Licht und noch ein paar Dinge mehr erfand und alles veränderte. Doch genau dieses Licht war jetzt weg, die Straßenlaterne aus und die Motte in meinem Zimmer.
Ich schaute nach draußen und sah zum ersten Mal die Sterne in der Stadt. Nicht ganz so viele, wie wenn man in einer Wüste nach oben schaut, aber deutlich mehr als sonst. Aus meinem Fenster im vierten Stock konnte ich vom Hang hinab die Stadt überblicken: Es war nicht nur die Laterne vor meinem Haus, nicht nur in der Straße oder dem Viertel – es war die ganze Stadt.
Abgesehen von den Autoscheinwerfern und dem Krankenhaus mit seiner Notbeleuchtung war es stockdunkel draußen: Keine digitalen Werbeflächen, keine Schaufenster, keine Leuchtreklame. Und ich war nicht allein, viele Menschen hatten die Fenster geöffnet oder waren auf der Straße und ich bemerkte, es war nicht nur dunkel, es war auch still. Handys taugten nur noch als Taschenlampe, ohne Strom auch kein Mobilfunk. Ich nahm mir ein Bier mit, im Kühlschrank würde es sowieso nur warm werden. Es war Frühsommer, der Klimawandel ließ sich nicht lumpen so dass die Luftfeuchtigkeit in kleinen Perlen am Flaschenhals meiner Bierlasche kondensierte.
„Wir müssen Mutter anrufen“, rief jemand. „Wir müssen fragen, ob sie Strom hat.“
„Wir können Mutter nicht anrufen, die Telefone funktionieren nicht. Was willst Du sie denn fragen, selbst wenn sie Strom hat. Ob sie uns eine Tüte voll abgeben kann?“
Ich ging weiter. Ich hatte auch keinen Strom dabei. Nur auf dem Handy war noch ein kleiner Rest. Ich machte Fotos: Die Leuchtreklame, die nicht blinkte. Die digitalen Werbetafeln, deren Licht nicht mehr die Nacht durchschnitt. Die Straßenlaternen, die nicht mehr leuchteten. Und da sah ich es im Gegenlicht eines Autos, das langsam, fast suchend auf mich zu fuhr: Keine Insekten mehr um die Straßenlaterne. Sie waren frei. Dafür Fledermäuse, die jetzt durch die ganze Straßenschlucht stürzten und sich nicht mehr um die Laternen schwindelig flogen.
Die Fotos waren für meine Freunde in Frankreich vom „Clan du Neon“, die sich auch Energiefischer nannten und mit langen Angeln durch Paris und andere Orte laufen, um nachts das Licht von Leuchtreklamen auszumachen.
Ich weiß noch, als ich sie das erste Mal in den Straßen von Paris sah: Ich war auf Besuch bei einer Freundin und sie und ich und der Hauswein eines kleinen Bistros hatten ein sehr schönes Wiedersehensfest gefeiert. Deshalb war mir damals auch zuerst unklar, ob ich wirklich das sah, was ich zu sehen glaubte: Drei Gestalten in Clownskostümen, die vor Geschäften hochsprangen und die Leuchtreklamen gingen aus.
Ich blieb auf dem Kopfsteinpflaster stehen und starrte zu ihnen. Meine Freundin starrte mich an.
„Was tun sie da?“, fragte ich.
„Sie befreien Mücken“, antwortete sie.
„Mücken?“, fragte ich. „Was für Mücken?“ Möglicherweise war mein Französisch doch nicht mehr so gelenkig, wie ich vor mir selbst annahm.
„Ja, Mücken, diese kleinen Viecher, die dich nachts durch ihr Bssssssss nicht einschlafen lassen und immer um dich herumfliegen. Und wenn das Bssssss aufhört, weißt Du, dass sie auf Dir gelandet sind und Dein Blut wollen.“
„Aber nur die weiblichen Mücken“, sagte der Teil von mir, der nachts zu viele Tierdokus schaute. „Und, und, und … auch wenn sie nerven, sind sie doch wichtig für unser aller Überleben.“
„Deshalb befreien ja die Leute da vorne auch die Mücken“, sagte sie.
„Aber die springen doch nur hoch oder stochern in der Luft rum. Was hat das mit Mücken zu tun?“
Adeline hakte sich bei mir ein, so wie früher und sagte: „Komm, gehen wir mal rüber und fragen sie.“
Und so saßen wir fünf Minuten später zusammen auf dem Bürgersteig, jemand hatte noch einen Rotwein und ein paar Gläser aufgetrieben. Nach rechts waren alle Leuchtreklamen aus, nach links waren sie noch an.
Celine hatte ihre grüne Clownsperücke abgesetzt und neben die umgebaute Angel gelegt.
„Also ihr geht durch die Straßen und macht die Leuchtreklamen aus“, fasst ich zusammen, was ich begriffen hatte.
„Nur von den Geschäften, die nicht wichtig sind. Apotheken und so rühren wir nicht an.“
„Es geht um die Lichtverschmutzung in den Städten nachts“, erklärte sie und es schien mir wirklich so, dass es nach rechts mehr Stern zu sehen gab als nach links. Vielleicht war das aber auch nur der Rotwein in mir.
„Kein Mensch braucht diese Leuchtreklamen Die meisten Geschäfte sind zu. Und alle klagen über steigende Strompreise.“
„Warum habt ihr alle Clownskostüme an? Das ist doch total auffällig.“
„Es sollen ja auch auffallen. Hier ist keine Leuchtreklame aus, weil sie kaputt ist. Sie ist aus, weil wir sie ausgemacht haben.“
Guy drückte mir einen Aufkleber in die Hand, auf dem „Clan du Neon“ stand. „Den kleben wir immer dahin.“
„Per Gesetz müssen alle Geschäfte einen Ausschalter draußen am Geschäft haben. Den drücken wir dann eben beim Spazieren gehen. Hält auch ziemlich fit, da hochzuklettern, da brauchst Du kein teures Fitnessstudio mehr…“
„Und, ist das schwierig?“, war meine nächste Frage.
Der Wein war leer, die Antwort von Adelaine war „pas du tout“ und selten habe ich den Muskelkater am nächsten Tag so genossen, wie damals in Paris.
Und ich habe bis heute nicht vergessen, wie es war, wenn man bei einer Leuchtreklame den Schalter drückt, das Licht ausgeht und der Schwarm der Mücken und Nachtfaltern, der sinnlos davor herum wabert, sich langsam auflöste und die Insekten ihre Freiheit wiederfinden.
Paris war schon ein paar Jahre her und hier gab es keine Schalter außen an Geschäften, die man einfach drücken konnte. Und hier war auch keine Armee des „Clan du Neon“ unterwegs. Hier war der Strom einfach so weg.
Aber der Blick in den Himmel war noch besser als damals in Paris, denn hier war alles aus, so wie in Spanien neulich. Zu gern wäre ich jetzt als Satellit unterwegs, um zu sehen, wie es von oben aussieht.
Ich ging weiter die Straße hinab, an der nächsten Kreuzung loderte ein Feuer, und statt scheppernder Musik aus einem Handylautsprecher saß da eine Gruppe Jugendlicher, die zur Gitarre sang. Die Mücken tanzten über den Köpfen der Menschen, nicht zu nah am Feuer, das war zu heiß, aber unwiderstehlich angezogen von dessen Licht und dem Geruch der Menschen. Immer wieder stieß eine Fledermaus für einen Snack hinab und der Gesang der Menschen tanzte im Rhythmus der Flammen. Ich hörte eine Weile zu, dann ging ich weiter, dem Fluss entgegen, der im Tal durch unsere Stadt floss. Schon aus der Entfernung konnte ich sehen, wie sich die Sterne im Fluss spiegelten.
Ich ließ mich in den sternklaren Nachthimmel fallen.
Dann nahm ich das leere Marmeladenglas aus der Tasche, schraubte es auf und hielt es den Sternen entgegen. Es dauerte nicht lange, bis ich das Schlagen kleiner Flügel hörte, mit dem die Motte, die ich vorhin in meinem Zimmer eingefangen hatte, zittrig zu den Sternen aufstieg.
Ich weiß, was Adelaine gesagt hätte: „Für uns macht das vielleicht keinen Unterschied. Für die Motte schon.“
Jörg Ehrensberger, Juni 2025
Kurzvita
Jörg Ehrnsberger ist Autor literarischer Werke, Sachbüchern und Theaterstücken. Er ist seit vielen Jahren international in der Autorenbildung tätig und hat auch zu diesem Thema veröffentlicht.
Bezug zum Thema Dunkelheit:
- Studium der Biologie
- Ein Theaterstück über den „Clan du Neon“ (Energiefischer), in dem es darum geht, wie Jugendliche aus Diskussionen über Stromverschwendung und Lichtverschmutzung auf den „Clan du Neon“ treffen und aktiv werden.
Jörg Ehrensberger hat mir seiner Kurzgeschichte „Die Dunkelheit“ unseren Kurzgeschichtenwettbewerb 2024/2025 den dritten Platz gewonnen.
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