Die Dunkelkröte

21. August 2025 by Sascha

Klick! machte es und schon hatte Layla mit ihrer Kamera ein faszinierendes Stückchen Welt konserviert. Von ganz unten in der Gasse hatte sie aus der Froschperspektive heraus nach oben fotografiert. An einer Hausfassade reihten sich für die Werbung einer Fluggesellschaft neon-gelb leuchtende Vögel-Figuren aneinander. Verschwommen sah man darum herum die bunten Lichter anderer Leuchtreklamen und eine Ahnung des bläulich schimmernden Nachthimmels, der sich matt und leblos über die zahllosen Wolkenkratzer der Stadt erstreckte.
Ein fremdartiges Geräusch riss Layla aus ihren Gedanken. Inmitten von Verkehrsrauschen und fernem Sirenenalarm hatte zu ihren Füßen etwas … gequakt? Erschrocken wich sie einen Schritt zurück, als sie die hässliche kleine Kreatur erblickte, die vor ihr auf dem Boden saß und sie mit zwei schwarzen Augen grimmig anstarrte. Eine Dunkelkröte!
Layla begab sich schwerfällig – sie war nicht mehr die jüngste – in eine Hocke und musterte das Wesen nun mit warmherziger Neugier. Eigentlich war es gar kein Wunder, dass die zwei einander zu so später Stunde begegneten. Schließlich waren beide nachtaktiv. Layla hatte nach ihrem Ruhestand bald erkannt, dass die Nacht der wertvollste Zufluchtsort für einen Menschen war, den diese ruhelose Welt einem bieten konnte. Wenn die meisten Leute schliefen, lief das unermüdliche Getriebe dieser Stadt zumindest ein klein wenig gemäßigter.
Die Leuchtreklamen legten einen bunt schillernden Schleier über die Fassaden und Straßen. Erst spät hatte sie die Fotografie für sich entdeckt, doch sie hatte ihre Sicht auf die Welt komplett verändert. Sie schritt mit so viel mehr Achtsamkeit durch die Gassen der Stadt, entdeckte Details, an denen sie früher wie eine Schlafwandlerin vorbeigegangen war.
Wie viele Menschen wohl an dieser Dunkelkröte vorbeigezogen waren, ohne sie überhaupt zu bemerken? Das Tier hockte inmitten von Straßenmüll. Schon vor langer Zeit waren die Kröten Teil der Stadt geworden, ähnlich wie so viele andere Arten, die die Metropolen der Welt als völlig neues Ökosystem für sich entdeckt hatten und sich in ihren dunklen Winkeln einnisteten, vom Abfall der Menschen lebend. Die Dunkelkröten hatten in der Kanalisation und den mit Regenwasser gefüllten Schlaglöchern der ärmeren Teile der Stadt Einzug gehalten.
Es hieß, dass sie in einer ursprünglicheren Umgebung eine besondere Camouflage-Technik anwenden konnten, bei der sich ihre Haut der Umgebung anpasste. Es gab sogar das Gerücht, dass sie mittels Biolumineszenz leuchten konnten und dadurch Insekten anlockten, um sie zu fressen. Layla hatte einmal gelesen, dass sie in der Stadt jedoch nur Maden aßen, die sie im Abfall fanden. Fliegende Insekten gab es kaum welche. Kein Wunder, schließlich war etwa die Hälfte aller Insektenarten nachtaktiv und auf das natürliche Leuchten von Himmelskörpern angewiesen, um sich zu orientieren. Die grelle Stadt war für solche Wesen ein tödliches Labyrinth.
Die runzlige Haut der Kröten war meist in einem Grau-Braun gehalten. Damit war sie auf den städtischen Böden quasi unsichtbar. Zumindest für unaufmerksame Blicke.

Layla setzte mit der Kamera an, um den Anblick der Kröte einzufangen. Plötzlich fühlte sie einen Ruck in ihrer linken Schulter. Jemand hatte sie angerempelt. Sie blickte nach oben in das verärgerte Gesicht eines Mannes, der gerade noch auf sein Smartphone geschaut hatte.
»Entschuldigen Sie, gute Frau, aber warum müssen Sie denn auch mitten im Weg rumhocken?«, sagte er verärgert und hastete weiter, ohne eine Antwort abzuwarten. Layla schaute ihm irritiert nach. Die Kröte war nicht das einzige unsichtbare Wesen in dieser ständig abgelenkten Stadt.
Aber wenigstens war Layla in ihrer natürlichen Umgebung, schließlich wurden Städte doch für den Menschen und seine Bedürfnisse gebaut, oder? Doch sie war sich da nicht so sicher. Wie oft war sie unterwegs gewesen und hatte Durst gehabt, konnte sich aber gerade keine Flasche Wasser leisten? Wie oft war sie lange in ihrem Zimmer wach gelegen, weil es durch die Leuchtreklamen einfach nicht richtig dunkel wurde?
Vielleicht hatte sie sich ihrer Umgebung genauso notdürftig angepasst, wie die Dunkelkröte vor ihr. Letztendlich wusste Layla auch nicht, wo sie sonst hätte leben können. Aber für die Kröte gab es wenigstens noch eine Chance, sich an einem Ort richtig heimisch zu fühlen. Sie fasste einen Entschluss. Aus einer nahegelegenen Papiertonne fischte sie einen Schuhkarton. Mit einem Stift stach sie kleine Luftlöcher hinein. Und nur mit ein klein wenig Ekel drückte sie die Kröte, die vor nichts und niemand Angst zu haben schien, sanft in die Box.

Praktischerweise fuhr der Zug auch zu so später Stunde noch, um den Transport in die nächstgelegene Stadt zu ermöglichen. Doch Layla interessierte nicht die andere Metropole, sondern das, was dazwischen lag. Sie musste bei der KI, die den Zug steuerte, extra angeben, dass sie an der Haltestelle im Dorf am Sumpfgebiet aussteigen wollte. Normalerweise wurde diese nachts übersprungen, weil es nur wenige Bewohner hatte und sonst nur Touristen dorthin reisten, um die spektakulären Überreste des Tagebaus anzusehen. Lange war dort der Boden für seine Schätze ausgehöhlt worden. Das hatte tiefe Narben in der Landschaft hinterlassen. Die Firma hatte versprochen, das Gebiet zu renaturieren, es wieder mit Pflanzen und künstlich angelegten Gewässern zu beleben. Das war schon einige Jahrzehnte her. Nur sehr zögerlich hatte sich dort wieder Flora und Fauna angesiedelt. Von einem richtigen Wald, der über hunderte Jahre hinweg leben und gedeihen konnte, war das Gebiet immer noch weit entfernt. Trotzdem wurden dort Dunkelkröten gesichtet.
Als die KI-Stimme nach etwa zwei Stunden Fahrt die Haltestelle ansagte, stieg Layla, die Box wie ein Baby im Arm haltend, aus. Zielstrebig ging sie durch das schläfrige Dorf, um danach auf einem von Büschen umgebenden Pfad weiterzugehen. Es war so dunkel, dass sie eine Taschenlampe aus ihrem Rucksack herausholte. Ihr war ein bisschen mulmig zumute. An eine solche Dunkelheit war sie nicht gewöhnt.
Irgendwann erreichte sie einen großen Teich. Er schien durch einen natürlichen Damm entstanden zu sein, den ein Biber gebaut hatte. Der Biber hatte sich als ein so viel besseres Renaturierungstalent erwiesen als der Mensch, stellte Layla schmunzelnd fest. Durch die Stille hindurch hörte sie die Kröte sanft quaken. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie auf etwas zu antworten schien. Irgendwo im Dunkel der Nacht hallte dasselbe Geräusch durch andere Kröten zu ihr zurück. Hier lebte ihresgleichen.
Den ganzen Weg hierher war die Kröte ruhig gewesen, doch jetzt waren ihre Bewegungen im Inneren des Kartons spürbar. Sie wollte raus. Layla beeilte sich, sie ans Ufer zu tragen und setzte die rumpelnde Box vorsichtig ab. Kaum hatte sie den Deckel abgenommen, sprang die Kröte heraus und landete mit einem lauten Platsch im Wasser.
Layla fühlte sich plötzlich sehr allein inmitten der Stille und der Dunkelheit. Ein Unbehagen schlich sich an sie heran. Sie spürte, wie schutzlos sie ihrer uneinsichtigen Umgebung ausgeliefert war. Doch sie blieb einen Moment in der Stille sitzen. Sie hörte das unermüdliche Zirpen der Grillen. Den fernen Ruf eines Uhus. Das Flattern von Fledermäusen, die sich in leisen Kunstflügen an Insekten in der lauen Sommerluft labten. Sie war nicht allein. Die Nacht war voller Leben und Wesen, die ihre vielen eigenen Ziele verfolgten. Layla schaltete ihre Taschenlampe aus und ließ sich jetzt vollends von der Dunkelheit der Nacht einhüllen.
Nun taten ihre Augen merklich etwas, von dem sie sich kaum bewusst war, dass sie es konnten: Sie gewöhnten sich an die Dunkelheit. Plötzlich sah Layla einen leuchtenden Punkt hoch oben am Himmel. Sie dachte erst, es handelte sich um ein Flugzeug oder einen Satelliten, doch da es sich nicht bewegte, stattdessen nur gleichmäßig funkelte, konnte es das nicht sein. Das hier war nichts menschengemachtes, sondern etwas, das sehr viel älter war als die Menschheit selbst. Sie sah einen Stern.
Je länger sie schaute, desto mehr leuchtende Punkte gesellten sich zu ihm, ganz so, als würden sie gerade erst Stück für Stück auf das Firmament gemalt. Momente später war der ganze Himmel davon erfüllt. Entlang eines bogenförmigen Lichtmeeres sammelten sich besonders viele Sterne. Layla hatte davon gelesen, sie jedoch noch nie zuvor mit eigenen Augen gesehen: Die Milchstraße. Erst jetzt fasste sie, wie das Leben in der lichtdurchfluteten Stadt ihre Welt verkleinert hatte, ihr etwas so kostbares, nur schwer mit Worten beschreibbares, geraubt hatte.
Etwas anderes erhaschte jetzt ihre Aufmerksamkeit, direkt vor ihr im Wasser. Ihre ganze Umgebung hatte an Konturen gewonnen, sie erkannte so viel mehr als zuvor. Nun sah sie auch das Seerosenblatt, auf dem ihre Dunkelkröte saß. Sie leuchtete sanft. Oder genauer: Einzelne ihrer Warzen leuchteten, fast so wie Sterne. Die Kröte war wieder in einer Umwelt, die nach dem Ausleben ihrer natürlichen Rhythmen verlangte. Layla lächelte und saß noch eine Weile in der Dunkelheit. Eine tiefe Ruhe hatte schon längst jedes Unbehagen verdrängt, das sie zuvor gespürt hatte. Ihr ging es ganz ähnlich wie der Kröte.

Am nächsten Tag stand Layla in der Besenkammer ihrer Wohnung, die sie zur Dunkelkammer umfunktioniert hatte. Sie beobachtete, wie aus einem schwarzen Bild heraus das Foto entstand, das sie in der Stadt von der Kröte gemacht hatte. Sie verstand die Dunkelheit jetzt als etwas lebensspendendes. Pflanzen wuchsen aus der Dunkelheit der Erde hinaus und wurzelten für immer in ihr. Lebewesen, die geboren werden oder aus einem Ei schlüpfen, kennen zuerst nichts als Dunkelheit. Sogar das Universum selbst mitsamt seinen Sternen, war wohl aus der Dunkelheit heraus entstanden. Layla beschloss, dass sie als Nächstes lernen würde, wie man den Nachthimmel fotografierte. Obwohl sie bezweifelte, dass irgendeine Abbildung seinem unmittelbaren Anblick je ganz gerecht werden könnte.

Teresa Steidele, Juni 2025


Kurzvita

Teresa Steidele, Jahrgang 1998, studierte Medien und Kommunikation an der Universität Passau. Derzeit ist sie im Autorennetzwerk der Ströer Media Brands GmbH als Lektorin und Autorin tätig. Auf ihrem Blog chrononautin.com veröffentlicht sie Essays und Kurzgeschichten rund um Phantastik und Philosophie. Von Kindheit an taucht sie gerne in Fantasy- und Science-Fiction-Geschichten ein, fasziniert von der Macht der Genres, die Grenzen des Möglichen infrage zu stellen. Mindestens genauso fasziniert ist sie von den Wundern des Weltraums, die ebenso zum Träumen anregen.


Teresa Steidele hat mir ihrer Kurzgeschichte „Die Dunkelkröte“ unseren Kurzgeschichtenwettbewerb 2024/2025 den dritten Platz gewonnen.

Hinterlassen sie eine Antwort