Das Wunder der Nacht

22. August 2025 by Sascha

Es war nicht so, dass Marie nie über die Nacht nachgedacht hätte, sie hatte nur nie die Muße gefunden, ihr eine andere Bedeutung zuzuschreiben als die, die sich ihr Tag für Tag – oder vielmehr Nacht für Nacht – aufdrängte, wenn sie, noch vor Morgengrauen, hinaus in die winterliche Kälte trat, um sich in die anonymen Gänge eines Pendlerzugs zu begeben, oder abends, nach einem weiteren Tag voll flüchtiger Begegnungen, zurückkam in ihre Wohnung, deren Vorhänge sie hastig zuzog, als wäre der Schatten draußen ein Feind, der bloß darauf wartete, eindringen zu dürfen.

Die Nacht war für sie keine Versprechung von Weite, kein Mantel des Trostes oder der Geborgenheit, sondern ein Reich der Unsicherheit, der Angreifbarkeit, bevölkert von Gestalten, die das Tageslicht meiden, umso bedrohlicher in ihrer Unsichtbarkeit erschienen; sie kannte nur das Schwarz zwischen den Laternen, die zu schwach leuchteten, um Sicherheit zu schenken, aber hell genug waren, um die Augen zu blenden, wenn man den Weg nach Hause suchte – hastig, mit angespannten Schultern, die Tasche vor dem Körper, der Schlüssel in der Faust.

Und so war es fast ironisch, dass gerade der Urlaub – jener flüchtige Moment außerhalb der Struktur, an einem Ort, der mit Wind und Weite mehr zu tun hatte als mit Straßen und Schildern – dazu führte, dass sich in ihr eine Tür öffnete, die sie längst versiegelt geglaubt hatte: eine Tür zum Staunen, zum Innehalten, zum Loslassen.

Sie war bei Jenny, ihrer Freundin aus alten Tagen, die den Mut aufgebracht hatte, sich an einem abgelegenen Küstenstreifen unterhalb von Dänemark ein anderes Leben aufzubauen: einen Gnadenhof für Tiere, die anderswo als verlorene Fälle galten, und Marie half ihr in ihrem Urlaub so gut sie konnte, fegte Ställe aus, schleppte Heuballen, streichelte lahmende Esel und sprach mit Katzen, die niemandem mehr vertrauten – und am Abend, als sie beide erschöpft, jedoch von der erledigten Aufgabe beseelt auf der kleinen Holzbank vor dem Haus saßen, tranken sie dampfenden Tee und redeten über das, was sie hinter sich gelassen hatten, und das, was sie nie zu fassen bekamen.

An einem solchen Abend – der Wind war zurückgegangen, das letzte Meckern einer Ziege verklang in der Stille – verabschiedete sich Marie, müde, mit schmerzenden Händen und einem Herzen, das sich seltsam gelöst anfühlte, und wollte zurück zur Ferienwohnung, einem kleinen, schiefergedeckten Häuschen, ein paar hundert Meter entfernt.

Sie öffnete die Tür des Haupthauses des Gnadenhofs, trat hinaus, zog den Reißverschluss ihrer Jacke bis zum Kinn, fröstelte leicht, und während ihre Gedanken noch an etwas hafteten, das Jenny ihr kurz zuvor erzählt hatte – irgendetwas über einen Schafbock, der sich nicht von seiner kranken Gefährtin trennen ließ –, hob sich ihr Blick ganz von selbst, beinahe so, als habe ihn ein unsichtbarer Faden in den Nacken gezogen, langsam, tastend, ohne Absicht – und dann hielt sie inne.

Was sie sah, war keine Leere, kein Schwarz, kein schlaffes Firmament, sondern etwas, das jenseits ihrer Vorstellungskraft lag: ein Bogen aus tiefer, durchdringender Dunkelheit, in die sich das Licht der Sterne wie in Samt gegraben hatte – unzählige Punkte, scharf gezeichnet, still und zugleich vibrierend, als wollten sie ihr etwas mitteilen, ein Wissen, das in keiner Sprache ausgedrückt werden konnte.

Marie blinzelte, blinzelte erneut, trat einen Schritt zurück, als müsste sie Abstand gewinnen, um zu begreifen, was sie sah, und für einen flüchtigen Moment glaubte sie, den Halt zu verlieren, nicht körperlich, sondern innerlich – als sei ihr Weltbild, das so lange in den Grenzen von Straßenlaternen, Neonlichtern und zugigen U-Bahn-Eingängen gefangen gewesen war, plötzlich zu klein geworden für diese Wahrheit, die sich über die Scheunen und Weiden ausbreitete wie ein offenes Geheimnis.

„Ach, du meine Güte!“, flüsterte sie, ohne zu wissen, an wen sich diese Worte richteten, vielleicht an sich selbst, vielleicht an etwas, das über ihr war, vielleicht auch nur an das Erstaunen selbst, das sich wie ein unerwarteter Gast in ihrer Brust ausbreitete und dort zu glühen begann, warm, fremd, belebend.

Sie stand reglos, wie in ein unsichtbares Band geschlungen, schaute nach oben, dann wieder, dann noch einmal, versuchte, einzelne Sternbilder zu erkennen, doch das Denken wich zurück, wich der bloßen Empfindung, dem Staunen, der fast kindlichen Ehrfurcht, die sie nie gesucht, aber jetzt gefunden hatte – oder vielmehr: die sie gefunden hatte.

Sie merkte nicht, wie Jenny die Tür öffnete, auf die kleine Treppe trat, mit zwei Decken in der Hand – eine für sie, eine für Marie –, sie merkte nicht, wie Schritte knirschend über den Kies kamen, nicht, wie Jenny neben sie trat und sie musterte, halb belustigt, halb berührt, bevor sie sagte: „So hast du ihn noch nie gesehen, oder?“

Marie schüttelte nur langsam den Kopf, noch immer ohne Worte, als hätte man ihr für diesen Moment die Sprache genommen, nicht aus Schock, sondern weil es nichts zu sagen gab, nichts, das das fassen konnte, was sich gerade in ihr abspielte – ein Erstaunen, so zart und gleichzeitig so raumfüllend, dass es sie selbst zum Leuchten brachte, wenn auch nur innerlich, als wäre in ihr etwas entzündet worden, das lange geschlummert hatte.

Jenny lächelte, reichte ihr die Decke, die Marie fast nicht bemerkte, so sehr war ihr Blick noch immer nach oben gerichtet, dann legte sie ihre eigene Decke auf das Wagendach und sagte: „Komm, leg dich kurz. Das ist besser als jeder Fernseher.“

Sie zogen sich auf die Motorhaube zurück, die noch die milde Wärme des Tages in sich trug, und streckten sich unter den mitgebrachten Decken aus, Schulter an Schulter, schweigend, während über ihnen das Firmament pochte wie ein lebender Teppich, ein atmendes Lichtgewebe, das keinen Anfang und kein Ende zu kennen schien.

„Ich wusste nicht …“, begann Marie, hielt inne, suchte nach einem Wort, das weder zu klein noch zu pathetisch war, fand keines und sagte schließlich: „… dass das wirklich so aussieht. Ich dachte immer, die Fotos wären irgendwie… bearbeitet.“

Jenny lachte leise, sanft, nicht spöttisch: „Das denken viele. Aber das ist nur der Teil der Nacht, den wir vergessen haben – weil wir sie eingesperrt haben zwischen Reklame und Laternenlicht.“

„Und du hast keine Angst?“, fragte Marie schließlich, „nachts, wenn es so … so ganz still und dunkel ist?“

„Am Anfang schon“, sagte Jenny. „Weil ich die Stille nicht kannte. Weil ich dachte, sie wäre leer. Aber sie ist nicht leer. Sie ist voll. Sie ist ein voller Raum, voller tiefer Geduld – und wenn man möchte, auch voller Antworten, die sich nicht aufdrängen, sondern einfach existieren.“

Marie schwieg, spürte Jennys Worte in sich nachhallen, wie Tropfen, die in einen tiefen Brunnen fallen, einer nach dem anderen, bis man merkt, dass das Wasser längst sich angesammelt hat, nur eben sehr, sehr weit unten, tief in einem drin.

Und während sie dort lagen, auf der leicht gewölbten Motorhaube des alten Kombis, das Blech unter ihnen warm wie ein Resttag, auf dem noch etwas ruhte, das nicht verschwinden wollte, legte sich eine Stille über alles – nicht plötzlich, nicht mit einem Schnitt, sondern wie eine zweite Decke, eine, die in Zeitlupe fällt, sich langsam ausbreitet, Falten schlägt, sich über jedes Geräusch legt und es nicht erstickt, sondern verwandelt.

Es war keine Stille, die leer war, nicht das Fehlen von Klang, sondern das Dasein von etwas, das sich dem Gehör entzog, aber dennoch anwesend war – eine Gegenwart ohne Form, ein Raum ohne Begrenzung, so fein gewebt, dass jeder Atemzug darin zu schweben schien, schwerelos und zugleich bedeutungsvoll, als sei jede Sekunde ein Gefäß, das nur darauf wartete, mit etwas gefüllt zu werden, das keine Worte kannte.

Dann, fast gleichzeitig, als hätte die Welt beschlossen, sich ihr nach dem Eindringen der Stille langsam wieder zu offenbaren, bewegte sich etwas im Gras zu ihren Füßen, ein leises Rascheln, kaum mehr als eine Geste – das vorsichtige, kaum merkliche Streifen des Dünengrases im Wind, das nicht einmal ein Klingen war, sondern eher ein Erinnern an Klang, wie der Nachhall einer Melodie, die man nur im Innern hört, wenn man lange genug geschwiegen hat.

Und noch weiter, vielleicht am Rand der Koppel oder bei dem alten Schuppen, knackte plötzlich ein Holz, trocken und mürbe, so, wie es nur altes, der Witterung überlassenes Holz tut, das seine Geschichten nicht mehr laut erzählt, sondern in kleinen, abgehackten Lauten, die sich mehr an die Nacht wenden als an das Ohr des Menschen.

Aus dieser Stille, aus diesem Raum zwischen Himmel und Boden, zwischen Rascheln und Knacken, zwischen ihrer Freundin neben sich und der Welt, die nicht mehr dieselbe war wie noch vor einer Stunde, stieg in Marie ein Gedanke auf – nicht schnell, nicht wie eine Erkenntnis, sondern eher wie eine Nebelschwade, die sich ihren Weg sucht, langsam, durch das hohe Gras ihrer Gedanken: dass sie in all den Jahren nicht nur die Nacht gemieden hatte, sondern auch etwas in sich selbst, das nach Weite verlangte, nach einem Raum und der menschlichen Erlaubnis, sich still zu wundern.

Marie wusste – wie man etwas weiß, wenn man es nicht mehr beweisen muss –, dass sie diesem Abschnitt des Tages, diesem stillen, großen, oft missverstandenen Reich von Lichtpunkten und Lautlosigkeit, in Zukunft mehr Raum einräumen würde – nicht aus irgendeiner Pflicht, nicht aus einer extern aufgezwungenen Einsicht, sondern weil sie begonnen hatte, diesen Abschnitt des Tages besser zu verstehen.

Christian Knieps, Juni 2025


Kurzvita

Christian Knieps, geb. 1980, lebt und arbeitet in Bonn, schreibt Romane, Theaterstücke,
Novellen und Kurzgeschichten. Zuletzt: Chaos:Vater. Mehr Infos zu den Veröffentlichungen auf
christianknieps.net.


Christian Knieps hat mir seiner Kurzgeschichte „Das Wunder der Nacht“ unseren Kurzgeschichtenwettbewerb 2024/2025 mit einen Sonderpreis gewonnen.

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