Ein Blitz zuckt über den nachtdunklen Himmel und erleuchtet kurz die kleine Stadt, die sich an den Berg schmiegt. Grollender Donner folgt nur einen Moment später.
In den meisten Fenstern brennt Licht. Es wirft seinen Schein bis auf die tiefhängenden Wolken, verwandelt den prasselnden Regen in goldene Fäden, wo dieser vor den Scheiben zu Boden fällt.
In einem der erleuchteten Zimmer sitzt ein Junge. Bei dem lauten Knallen drückt er einen Teddy enger an seine Brust. Er ist schon acht, natürlich hat er keine Angst vor einem einfachen Gewitter. Seinen Eltern hat er noch versichert, dass er für einen Abend allein auskommt, sollen sie ruhig zu ihrem langweiligen Theaterstück gehen.
Aber die Bäume sind schaukelnde Schatten vor seinem Fenster und ist das nicht vielleicht doch ein Monster in seinem halb geschlossenen Schrank? Nein, nur eine seiner Jacken.
Wenn nur die Sonne endlich aufgehen würde …
Ganz das Gegenteil passiert: Mit einem extra lauten Krachen erlischt das Licht. Nicht nur im Zimmer des Jungen, überall in der Stadt gehen die Lampen und Bildschirme aus. Der ganze Ort verschwindet scheinbar, überrollt von einer Welle aus Dunkelheit, wie als wäre er aus der Zeit gefallen.
Der Junge gibt ein ängstliches Quieken von sich und verschwindet unter seiner Decke.
Bis die Blitze endlich abziehen und der Donner nur noch ein fernes Grummeln ist, hat der Junge leise bis siebentausendeinhundertdrei gezählt. Natürlich nur, um seinen Teddy zu beruhigen.
Jetzt lugt er vorsichtig unter seiner Decke hervor. Das Zimmer ist dunkel. Dunkler noch als sonst, wenn er mitten in der Nacht aufwacht, nachdem seine Eltern schon das Licht ausgemacht haben. Selbst das Monster in seinem Schrank ist wahrscheinlich vor Angst in Ohnmacht gefallen.
Von dem Gedanken ermutigt nimmt der Junge seinen Teddy und wagt sich aus dem Bett. Vage erinnert er sich, dass Mama und Papa doch meistens ein paar Kerzen auf den Nachttischen in ihrem Zimmer stehen haben. Sonst interessiert er sich nicht dafür, doch jetzt scheinen sie wie ein Lichtpunkt in einem Meer von Dunkelheit.
»Okay, Teddy«, flüstert er. »Keine Sorge. Wir schaffen das.«
Taps, taps läuft er durch den Flur.
Doch sobald er die Tür zu Mamas und Papas Schlafzimmer öffnet, bemerkt er, dass es eigentlich gar nicht mehr so dunkel ist.
Ein Sichelmond steht hoch am Himmel, umgeben von Sternen. Der Junge bleibt stehen, Mund weit geöffnet. So viele Sterne hat er noch nie gesehen. Neugier gewinnt die Überhand gegen seine Angst – er hatte ja gar keine Angst – und er zieht sich Schuhe an und schnappt einen Schlüssel, den Teddy immer noch fest im Arm.
Gemeinsam treten sie aus dem Haus. Die Luft ist warm und riecht nach etwas, wofür der Junge keine Worte findet: eine Mischung aus Regen und Dunkelheit und Stein und nasser Erde.
Gleich vor der Haustür bleibt er stehen, weil sein Blick sofort wieder gen Himmel wandert. Die Nacht ist dunkelblau, weniger gelblich als sonst. Und überall sind Sterne. Er sieht sogar ein Band, wo die leuchtenden Punkte dicht an dicht sitzen, das die Milchstraße sein muss. Da ist der große Wagen, den seine Mutter ihm einmal gezeigt hat. Und da ist der Nordstern, aus seinem Buch über Piraten und Seefahrer. Aber mehr der Bilder erkennt er nicht. Es gibt so viele Sterne, dass die Muster aus seinen Büchern untergehen.
Stattdessen beginnt seine Fantasie, sich eigene Gestalten auszudenken: »Guck mal, Teddy«, sagt der Junge und zeigt auf einen Haufen Sterne. »Das ist der Flauschige Bär.« Sein Finger wandert. »Und da ist das Einhorn.« Mit jedem Namen wird er mutiger, entschlossener. »Das ist der Brokkoli. Früher wussten alle, dass man immer zu seinem Ziel kommt, wenn man nur mit dem Rücken zum Brokkoli reist.«
Er lächelt. »Und hier ist das Himmels-M. Für Milan.« Schnell wirft er einen Blick auf den Teddy hinab. »Guck mich nicht so an. Ich finde bestimmt auch noch ein T für Teddy.«
Der etwas abgewetzte Bär mit der rosa Schleife antwortet nicht, aber Milan ist sowieso abgelenkt. Seine Augen ruhen auf dem Wald, der gleich an das kleine Grundstück angrenzt.
»Oh«, sagt er leise. »Ich glaube, da sind ein paar Sterne vom Himmel gefallen.«
Vorsichtig wagt er sich näher heran. Ohne den Garten zu verlassen natürlich, denn das darf er nicht allein.
Kleine, leuchtende Punkte tanzen unter den Bäumen und vor den nassen Blättern. Sie scheinen wirklich wie Sterne, oder als wäre der Boden mit gelben Blümchen übersät. Aber jetzt versteht Milan, was er sieht: Glühwürmchen.
Die kleinen Insekten geben keinen Laut von sich, als sie durch die windstille Nacht tanzen. Elegant formen sie Spiralen in der Luft und stieben sofort wieder auseinander.
Wie gebannt schaut Milan ihnen zu, Teddy an der Hand. Noch nie hat er ein Glühwürmchen in echt gesehen, jetzt zieht ein ganzer Schwarm an ihm vorüber. Eines trennt sich sogar von den anderen und landet für einen Moment auf seiner Hand. Zweimal blinkt es auf, dann fliegt es wieder davon.
Ein Surren. Überall in der Stadt gehen die Lichter wieder an, als der Strom zurückkehrt. Auch in dem Haus hinter Milan.
Schon kann er den Schwarm nicht mehr so gut erkennen und als er den Blick hebt, sind viele der Sterne verschwunden: Von dem Brokkoli ist nur noch ein Punkt übrig, das Einhorn hat alle Beine und sein Horn verloren.
»Oh«, murmelt Milan nur und kehrt dann mit einem letzten Blick auf den leeren Wald ins Haus zurück.
Drinnen ist es so hell, dass er erst einmal die Augen zukneifen muss. Das Deckenlicht wirft scharfe Schatten. Milan schaut Teddy an. Dann knipst er bestimmt das Licht aus. Soll das Monster im Schrank doch versuchen, ihn zu essen. Immerhin hat er schon zwei Filme mit Jackie Chan geguckt, das heißt er kann quasi Kung Fu.
Sobald das Licht aus ist, kann Milan die Augen wieder ganz öffnen. Er gähnt.
»Weißt du, Teddy«, sagt er, »vielleicht versuche ich heute, ohne Lampe einzuschlafen.«
Als er in seinem Bett liegt, wandert Milans Blick zum Fenster. Von hier kann er den Wald nicht sehen, nur das erleuchtete Haus der Nachbarn und ein kleines Stück Himmel mit einem einzigen Stern. Still nimmt er sich vor, morgen erneut nach den Glühwürmchen zu suchen.
Seine Augen fallen langsam zu. Die Dunkelheit umhüllt ihn wie eine warme Decke. Heute träumt Milan von Sternen, die durch den Wald tanzen und sich in den Wassertropfen spiegeln.
Der Unterschied ist kaum merklich, aber diese Nacht, ohne die Lampe in Milans Zimmer, ist der Himmel über der kleinen Stadt ein winziges Bisschen dunkler. Um das Klicken eines Lichtschalters näher an dem Bild, das ihn so verzaubert hat.
Jelena Moesus, Juni 2025
Kurzvita
Jelena Moesus, geboren in 2001, zog nach dem Abitur nach Berlin. Sie begann schon in der Grundschule mit dem Schreiben von Geschichten und führte dieses Hobby neben der Schule weiter – meistens bei Dunkelheit. Für sie liefert die Nacht eine ganz eigene Art von Motivation und bietet einen Raum ohne äußerliche Zwänge oder Pflichten, in dem sich die Kreativität frei entfalten kann.
Weitere Kurzgeschichten von ihr lassen sich in verschiedenen Anthologien und der im Rahmen des Young Storyteller Award 2022 veröffentlichten Novelle Ein Faden aus Licht finden.
Jelena Moesus hat mir ihrer Kurzgeschichte „Tanzende Sterne“ unseren Kurzgeschichtenwettbewerb 2024/2025 einen Sonderpreis gewonnen.
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