Der erste Lagunennebel

28. August 2022 by Karin

Es war ein angenehm kühler Abend.

Es war ein normaler Tag. Er war ein normaler Mensch an einem normalen Tag.

Der Wecker hatte zuverlässig um 06:30 Uhr geklingelt. Das blaue Handtuch hing frisch immer freitags aus dem Wäschetrockner auf seiner Seite, links. Rechts war ihre Seite, das Handtuch altrosa. Der Vormittag verlief regelmäßig. Nach dem Frühstück in Begleitung des Hausfrauensenders, nur ein gekochtes Ei zu Brot, Butter und Marmelade, Erdbeere, manchmal auch Kirsche, selten, und Tageszeitung lesen, einkaufen, auf das Mittagessen warten, Mittag essen, auf den Kaffee warten, dabei das Auto waschen oder irgendwas mit Auto oder Garage, Kaffee trinken, auf das Abendbrot warten, dabei mit dem Nachbarn rechts Recht haben oder dem Nachbarn links dessen falsche Meinung klar machen, Abendbrot essen.

Nach einem langen Tag des Regelmäßigen stand er vom heimatlichen, einem karobetischdeckten Küchentisch auf und befand es befriedigend, dass dieser Teil des normalen Tages wieder mal ein Ende gefunden hatte. Wie jeden Tag.

Er schielte verstohlen auf das Magazin, das auf dem Stuhl neben ihm lag. Er sah das Bild auf der Titelseite an. Es elektrisierte ihn und er wünschte sich, das live zu erleben, direkt.

Sie mochte das nicht.

Sie sagte, dass sie es nicht gern am Küchentisch sähe.

Es störe sie.

Er wusste es.

Männersache. Sie habe keinerlei Beziehung dazu.

Er schon. 

Sie interessiere sich nun wirklich nicht für solche Dinge. Sie habe es noch nie getan und dass wisse er doch.

Er wusste es.

Außerdem mache es keinen Sinn und es würde niemandem helfen, bei all den hungernden Menschen auf dieser Welt. Und es kostete viel, zu viel Geld.

Es kostete.

Der Abend versprach angenehm erfrischend zu werden. Sie war ins Wohnzimmer gegangen, telefonierte mit einer Freundin. Er hörte es am Singsang ihrer Stimme und dem zu erwartenden Auflachen, dass er einmal an ihr erfrischend fand. Er erinnerte sich. Kurz. Der Abend war kühl und nur er war erfrischend. Nach dem Auflachen kamen normalerweise kurze Fragen mit kurzen Antworten.

Sie kamen.

Dann ein ‘Ach’, ein ‘Ja, Ja, wie immer’, ein ‘Was soll’s’.

Die Brise, die ins Zimmer kam, war erfrischend. Sie blätterte einige Seiten in der Zeitschrift um.

Er bemerkte sie.

Er griff zum Magazin, liebevoll und aufgeregt. Seine Hände waren verschwitzt, sein Daumen und zwei andere Finger hinterließen eine Art Fettfleck. Er wischte sie mit flinken Hinundherbewegungen an seiner Hose ab. Ein wenig zu groß, aus den Achtzigern. Am Bund eng, Ja, doch, schon. Er ging zur Küchentür, das Magazin unter eine Achsel geklemmt, einen Becher mit Karokaffee mit einem Löffel Zucker, nur wenig Milch, in der Hand, die zur Achsel gehörte. Also, ganz normal. Er sah sich um. Er meinte, sie bliebe zurück auf dem Küchentisch, vielleicht zwischen den Karos. Eingeklemmt? Eingedöst vor der Normalität.

Er sah sich im Türrahmen der Küche aus Eicherustikal um. Er sah sie nicht mehr.

Er ging auf den Flur. Er blieb am Türrahmen stehen und sah ins Wohnzimmer. Sie stand neben ihm. Sie sah vom Telefon auf und starrte beide an, hoffnungslos.

Er senkte die Augen. Sie drehte sich weg. Er lenkte die Schritte zur Haustür. Er ging nach draußen zu der alten Garage. Er nahm sie mit.

Die Nacht versprach wolkenfrei zu sein. Neumond. Hinter der Garage begann das Magazin ihn zu schnelleren Schritten zu bewegen. Er ging an den Mülleimern vorbei. Der Biomülleimer stand wieder nicht an seinem vorgesehenen Platz, bestimmt sechs Zentimeter. Er kam der Garage näher. Etwas erwachte. Er nannte es Passion. Sie mochte sie nicht. Konkurrenz. Er schaltete das rote Licht der Kopflampe an und sah auf das Titelblatt. Er musste seine Augen an die Dunkelheit gewöhnen. Dann schloß er mit leicht zitternden Fingern die Tür auf und betrat sein Refugium, allein. Normal.

Seine Zeit begann. Er schaltete die Stromversorgung an, betätigte mehrere Schalter in schlafwandlerischer Selbstverständlichkeit und bediente die Knöpfe der Fernbedienung. Es begann um ihn herum zu summen und ein wenig zu knarren. Vertraute Geräusche seit Anbeginn der Zeit. So fühlte er es. Die Kuppel öffnete sich lustvoll. Sie zog sich zurück, nicht erbost, abwartend.

Er dachte an die Titelseite. Das war normal. Die erfrischende Brise betrat den Innenraum. Sie wusch das muffige Aroma der letzten Regentage aus dem kreisrunden Hort seiner Passion, doch konnte sie sie nicht wegwehen. Still und stumm, alles normal. Er öffnete den Rechner, seinen schlafenden Freund im Hibernate. Er erwachte. Er auch. Stellarium erwachte auch. Die Welt leuchtete in Rot. Sein Teleskop, sein 4,5 Zoll Newton, weiß, erwartete ihn wie ein treuer Freund. Sein Weiß fand er auch damals schon erfrischend an ihm. Immer für ihn da. An seiner Seite. Wie im Schützengraben, Hingabe, Aufgabe, für ihn da sein.

‘Was Orion verbunden hat, das soll der Mensch nicht scheiden.’ stand auf einem Poster, das in all den Jahren seine Farben an sie verloren hatte. Ausgelutscht und fade. An drei Ecken war es mit rotem Klebeband an der Innenwand befestigt. Die andere Ecke rollte sich auf. Klagte ihn an.

Das erste Lächeln des heutigen Tages. Normal.

Er nahm das Magazin und tippte den Namen ab, der unter dem Foto auf der Titelseite stand. Er lächelte. War es normal? Auf dem Display bewegten sich Welten, Linien und Zahlenkolonnen, manche mit scheinbarer Lichtgeschwindigkeit. Sie poppten wie Luftblasen in einem Glas gefüllt mit Sprudel auf und rasten an ihm und seinen suchenden, hungernden Augen vorbei. Es beunruhigte ihn nicht. Es war normal.

Der Lagunennebel. 

Im Sternbild Schütze, da thronte M8, seine Welt. Ein Emissionsnebel, ein Reflexionsnebel, ein Sternentstehungsgebiet, Ja, Ja 6,0 mag, 6,0 mag. So weit entfernt. Ja, leider. So weit entfernt. Seine Vollformatkamera mit dem großen Sensor hing an seinem Teleskop, erwartungsvoll und ungeduldig. Die Welt da draußen gab es nicht. Hier war alles normal. Er war normal. Wer nicht hierher kam, nicht hierher kommen konnte oder wollte, war nicht von dieser Welt. Sollte doch bitte draußen bleiben und Briefmarken sammeln oder Seidenmalerei betreiben.

Die Fokussierung geschah von allein, seine Finger kannten die kleinsten Berührungen, die über Lichtjahre entschieden. Das Metall und die Kunststoffe, die seine Haut berührten, tasteten sich behutsam zu seiner Seele vor. Eine kurze Berührung über 5200 Lichtjahre.

Sie würde es nie verstehen.

Er schon.

In der langsamen Bewegung der Erdachse veränderte sich das Bild in der Dunkelheit. Punkte wanderten langsam, kaum merklich am Firmament seines gewählten Himmelsausschnitts entlang, über die niedrigen Baumkronen hinweg, verschwanden unter dem Horizont. Hier und da ging ein Licht an, es gingen Lichter aus, eine Katze schlich durch den Garten.

Es war eine angenehm kühle Nacht.

Es war eine normale Nacht. Er war ein normaler Mensch in einer normalen Nacht.

Nach einem langen Tag und einem langen Abend saß er auf seinem bequemen Drehstuhl, den er nach seinem Renteneintritt aus der Firma hatte mitnehmen dürfen. Das war nett. Er saß auf seinem langjährig geformten Stuhl, den alten Bekannten seines Gesäßes. Wie fast jeden Tag. Dann sah er wieder auf das Bild der Titelseite. Wie gemein perfekt. So oft hatte er es schon probiert. Jahr für Jahr. Der erste Lagunennebel dieses Jahres.

Wo da wohl ein Unterschied sei, hatte sie ihn gefragt. Letztes Jahr hatte sie sich herabgelassen, einen gelangweilten Blick auf drei seiner bearbeiteten Fotos zu werfen. Immer dasselbe. Sie verstehe das nicht. Da ändere sich doch nichts.

Heute sein erster Lagunennebel in diesem Jahr. Er hatte Verbesserungen an seinem langjährigen Begleiter vorgenommen. Das Teleskoptreffen, neue Ideen, und auch Neid. Neue Begierden. Er sah wieder auf das Titelbild.

Er ließ die stellare Maschinerie ihr Werk beginnen und wartete. Er könnte ins Haus gehen und ein wenig schlafen. Sein Freund würde auch ohne ihn weiter arbeiten. Treuer, zuverlässiger Freund eben. Doch er saß. Er saß und trank einen Schluck Kaffee. Eine Spinne kletterte über sein rechtes Bein. Es kitzelte. Er saß. Er starrte in die Dunkelheit. Es war ganz normal. Noch zwei Nächte und dann stacken. Facetten des Lebens übereinanderlegen. Das ging im normalen Leben nicht. Ach. Wirklich. Wie schade.

Leise arbeitete sein Freund. Er fing Facetten aus der Vergangenheit auf, um Gleichzeitigkeit zu erschaffen. Irreal. Er saß. Er schaute auf den Tubus. Er meinte, Karos zu sehen. Er kratzte sich am Arm. Die alte Stelle ging immer wieder auf. Lästig. Wieder Schorf. Er saß. Die Stirnlampe rutschte leicht. Er rückte sie zurück. Sie rutschte wieder. Er atmete entnervt tief aus.

Die erfrischende Luft streifte seine Wangen. Sie hinterließ eine kleine Spur Feuchtigkeit, die ihn zwischen den Bartstoppeln kitzelte.

Er wischte sie weg, an seiner Hose ab. Aus den Achtzigern.

Er stand auf. Sah durch die geöffnete Kuppel zu seinem Haus, zum Schlafzimmerfenster. Sie lag dort, schlief. Er sah zum Dach. Moosüberwuchert. Feuchtigkeit. Alt. Aus den Achtzigern. Auch dort war sie, auch im Garten, überall. Nicht nur im Haus.

In seiner rechten Brusttasche spührte die Speicherkarte, die nicht ihren vorbestimmten Platz erhalten hatte. Vergessen. Sie steckte zwischen den Krümeln des Kekses des letzten Astronomietreffens vor fünf Wochen und einem kleinen Schnipsel der abgerissenen Eintrittskarte.

Autorin: KC Osvici (copyright) – Version: 2022-08-15 – ein Feedback ist erwünscht.

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