Sternenhimmel

12. September 2023 by Sascha

Im Universum ist keine Angst

Ich bin in Dresden geboren – an einem heißen Sommertag im Juli – früh ehe die Sonne
aufging. „Komm mit nach Dresden“, hat meine Großmutter gesagt, „da wohnt Churchills
Großmutter, da passiert nichts.“ Sie war extra nach Bremen gekommen, um ihrer Tochter bei der
Geburt beizustehen – aber in Bremen fielen nachts Bomben auf Dächer von Wohnhäuser. „Komm
mit nach Dresden ..!“ Der Zug war am 1. Juli gedrängt voll, blieb stehen, immer wieder blieb er
stehen. Bei jedem Halt kam der Schaffner: „Geht es noch, junge Frau?“ Am 4. Juli 1942 wurde ich
geboren in einer kleinen Klinik in der Liebigstraße.

Heute ist der 23. Februar 2023. Heute ist alles anders – nicht Churchills Großmutter, nur ich:
Großmutter. Keine Bomben – hier. Frieden. Demokratie. Meinungsfreiheit. Haben wir doch! Oder
haben die Genossen ein Schloss vor dem Mund und werden gar nicht gefragt, wenn Papa Scholz
seine Marder in die Ukraine schickt? Also, wir Genossen von Schönebeck treffen uns heute – ich
will in kleinem Kreis sprechen über Meinungsfreiheit: Warum wurde am 14. Februar über meinen
Antrag zu ‚Meinungsfreiheit‘ nicht abgestimmt? Warum wurde die Begründung zu meinem Antrag
nicht für alle ausgedruckt? Meinungsfreiheit – haben wir doch! Ich werde doch gar nicht von der
Gestapo abgeholt, wenn ich darüber sprechen will – mit den Genossen!

Ich mache mich zu Fuß auf den Weg zur Schlosskate – da treffen wir uns – welche Meinung
habt ihr eigentlich zu den Waffenlieferungen in die Ukraine? – darüber denke ich nach auf dem
Fußweg: erst Fährgrund, dann Borchshöhe. Es ist kalt. Die Welt ist schwarz – nur irgendwo über
den Straßenlaternen, weit weg, leuchtet die Mondsichel wie eine einsame Straßenlaterne. Aber ich
habe mich im Datum geirrt, heute ist gar kein Treffen. Die Schlosskate ist dunkel. Erleichterung, ich
muss heute gar nicht streiten!

Ich gehe weiter – vorbei am Schönebecker Schloss. Die Welt ist hier licht ohne Straßenlaternen,
der Weg ist hell. Vor mir begleitet mein Schatten mich schwarz. Über mir – weit oben –
schwimmt der Mond in der Tiefe des Universums – unendliches Blau, besetzt mit Diamanten, mit
Sternen – nur wenige setzen sich durch gegen das goldene Halbrund Mond. Der beleuchtet Schloss,
Erde und Himmel, der Weg hell wie das Wasser, darüber zieht der Große Wagen sehr blass seine
Bahn – so wie gelegentlich winzige Lichtpunkte, Autoscheinwerfer hinter den Waldbäumen auf der
Straße nach Leuchtenburg.

Mir fällt ein – eine Sommernacht in der Provence – Sterne – vollkommen – unendlich viele
– Diamanten – blass leuchtende Perlen – große und kleine – ich liege im warmen Gras, ich höre
Zirpen, Zikaden – wie weit – unfassbar – Himmel und Erde – ich staune …

Es ist kalt. Mein Mantel hält mich wohl warm, aber ich will nach Hause. Ich zweige ab über
die Brücke – nun wandert mein Schatten über die Schattenzweige zu meinen Füßen auf
mondhellem Weg, Baumstämme steigen neben mir bis in winterlich blattloses Gezweig vor
leuchtendem Himmel – unendlich tief – blau. Dann Häuser. Erleuchtete Fenster – die Welt ist
wieder eng geworden und dunkel und hört auf in der Höhe von Straßenlaternen. Auf dem
Ziegenweg blendet mich ein Autoscheinwerfer.

Als ich 2014 nach Vegesack zog, nähte ich blickdichte Vorhänge für meine Fenster wegen
der Straßenlampen vom Fährgrund. Nachts will ich ruhig schlafen. Nachts fahren nur wenige Autos
– ihr Laut wird fast geschluckt von den Dreifach-Fenstergläsern. Eigentlich wollte ich auf keinen
Fall eine Straße vorm Fenster! Aber die Wohnung sprach zu mir, wurde mein Raum, trotz Straße.
Man gewöhnt sich an alles. Ich schlafe gut und lange. Einmal wache ich auf von einem Plopp –
Plopp – immer wieder, das dauert – ich neugierig: drüben landet mit Plopp ein Karton nach dem
anderen aus einem Lastwagen auf dem Fahrradweg. Gespenster zieht ein Afrikaner aus den Kästen,
nämlich wehende Plastik-Fahnen, die knüllt er zusammen. Was passiert da? Schnell ziehe ich mich
an, komme gerade rechtzeitig, um zu fotografieren, wie der aus Albanien die Leiter von seinem
blauen Leiter-Wagen hochkurbelt zur Straßenlaterne. Er spricht gut deutsch. Er lädt mich ein zum
Gottesdienst nach Woltmershausen, jeden Freitag, er will mich sogar mit dem Auto abholen. Ich
schreibe mir seine Handynummer auf, aber ich verspreche nichts. Tatsächlich benutze ich sie nie,
sehe auch nicht die www.Adresse von dem Afrikaner an – es gibt einfach zu viele interessante
Menschen hier mit Heimat weit weg. „Wir tauschen die Straßenlaternen aus“, erklären sie mir, „Sie
bekommen nun LED-Lampen, nachts taghell!“ Ich sage: „Das will ich gar nicht! Ich will doch
nachts schlafen!“ Tatsächlich haben die Scheinwerfer, die sie aus den Plastik-Gespenstern
entwickelt haben, das Plopp-Plopp-Werfen heil überstanden und beleuchten die Straße Fährgrund
seitdem deutlich weniger hell als ihre Vorgänger – beruhigend.

Aber wenn ich abends auf meiner Terrasse nach den Sternen sehe, muss ich mich vorsichtig
bewegen. Sonst springt der Bewegungsmelder an und schluckt alles, was der Lichtsmog über der
Stadt noch erscheinen lässt. Manchmal bewegt sich ein Stern ganz schnell über den Himmel, das ist
dann die ISS, ein künstlicher Stern, Menschen-gemacht, Fussballfeld-groß. Wenn ein Astronaut nach
einem halben Jahr Schwerelosigkeit ausgetauscht worden ist, lächelt er in die Kamera – glücklich
für die Pressefotografen – vom Tragesessel aus, mit dem er programmgemäß nun ins Krankenhaus
gebracht wird – wo sein Körperraum programmgemäß nun wieder justiert wird für das Dasein auf
Mutter Erde. Man kann ja alles machen. Man kann sich dabei auch ent-erden – krank werden –
macht doch nichts! – wir haben doch keine Angst!

Doch. Ich bin aus Fleisch und Blut. Ich habe Angst – vor allem wegen der Nachricht, dass
sie auf dem Mond nun suchen wollen nach Seltenen Erden – für LED – oder Handys – oder so. Wer
zuerst oben ist, der malt zuerst. Genossen, wir sind ent-erdet! Wir sind besoffen von dem, was man
machen kann! Krieg ist doch keine heilsame Entziehungskur! Der Krieg in Syrien nicht. Der Krieg
der Sterne auch nicht. Wir sind alle ent-erdet von den vergangenen Kriegen.

Übrigens, die Liebigstraße in Dresden gibt es noch – sie wurde nicht zerbombt 1945 in den
Feuernächten. Aber die kleine Klinik, in der ich zur Welt kam, habe ich 2013 nicht gefunden, nur
eine kleine Konditorei – einen Kaffee, ein Stück ganz süßen Kuchen. Bevor ich löffelte, ging meine
Seele fremd – erinnerte sich – mich – an meine Ankunft auf Mutter Erde – meine Seele ging fremd
– in einem unendlichen Sternenraum – verloren – ungeerdet – lange – ohne Angst –

Angst ist dort nicht, Angst ist verbunden mit Fleisch und Blut.
Suchen Astronauten ein Dasein ohne Angst? – schwerelos – ent-erdet? Vergeblich!

Angst war nicht in meinem Erinnern – sondern verlorenes Irren im Universum – unangesehen.
Meine Mutter hatte mich nicht angesehen, sie begrüßte mich nicht im Dasein.

Bis ich die Augen aufschlug, jetzt, 2013, in der Liebigstraße, bei Kaffee und tröstlichem Kuchen.
Ja. Meine Mutter hat mich dann doch angesehen, begrüßt, mich, das Mädchen. Nur ein Mädchen.
Nicht das Fritzchen, auf das sie sich gefreut hatte. Diese Freude ist Kraft für ein ganzes Leben – für
meinen Kampf um Meinungsfreiheit, jetzt, achtzig Jahre später. Genossen, wir können fast alles
machen. Wir können auch aufhören den enterdeten Machern zu glauben, dass sie unsere Angst im
Leben besiegen.

Wir müssen das Leben auf der Erde selbst wagen, jeder und jede für sich.
Das weite Universum ist immer da – über den Straßenlaternen, die unseren Raum einengen.

Heide Marie Voigt


Heide Marie Voigt hat mit ihrem Text „Sternenhimmel“ eben falls den dritten Platz unseres MicroAmberFiction Schreibwettbewerbes gewonnen.

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