Das chilenische Sternentagebuch – Wie alles begann

1. August 2022 by Karin

Ein Tagebuch zu schreiben mag uns in späteren Tagen nur rudimentäre Eindrücke von dem vermitteln, was wir wirklich fühlten, als wir bestimmte Ereignisse durchlebten. Gedanken und Gefühle sind flüchtig, eben Windhauch. Auch wenn von einem Konglomerat aus Erlebnissen, die uns prägen, die in uns Bilder hervorrufen, die das Staunen konservieren, die Freude am Gehörten und Gesehenen bewahren, nur einzelne Worte bleiben, so können doch genau diese einzelnen Worte eine ganze Welt wieder zum Auferstehen erwecken. Deshalb entschied ich mich, dieses besondere Tagebuch, das chilenische Sternentagebuch zu schreiben, in das Lutz und meine Erlebnisse und Erkenntnisse einfließen sollten.

Chile an sich war nicht unbedingt für uns der ultimative Urlaubsort, aber die Sterne waren es. Als lichtüberflutete Europäer, die sich, obwohl bereits in den 50ern geboren, also in Zeiten größerer Dunkelheit, nur undeutlich erinnern konnten, jemals die Milchstraße gesehen zu haben, zog es uns dorthin, wo es die Milchstraße noch in ihrem spektakulärem Glanz zu sehen gibt – nach Chile.

Die Sterne entdeckte ich erst spät in meinem Leben, so ab 2005, als Lutz begann, mir die Sterne per APOD vom Himmel zu holen. Ganz besonders den Carina-Nebel, weil er meinen Namen trage, sagte er. Auf Englisch sagt man: ‚I was hooked for life.‘

Das bezog sich nicht nur auf die Carinaregion der südlichen Hemisphäre, die Pracht der stellaren Kulisse an sich und den klaren Nachthimmel. 😊

Carinaregion – aufgenommen in Cancana – Lutz Dörpmund – 20180709_204607 PAN_2137

Einen nicht geringen Einfluss hat auch Professor Brian Cox, der in seiner, im anglophonen Bereich, äußerst populären ‚Wonders of ….‘ Serie die LeserInnen und ZuschauerInnen auf eine epische Reise durch unser Universum mitnimmt, so wie es bereits Carl Sagan tat und heute Professor Harald Lesch. Und als Mitglieder der Olbers-Gesellschaft in Bremen sind Lutz und ich, als Amateur-Astrofotografen, mitten im stellaren Leben gelandet.

Chile bedeutet für viele Menschen: Wein, Valparaíso, Pablo Neruda, mit bitterem Nachgeschmack Pinochet, Patagonien, Pisco Sour und vielleicht noch Erdbeben. Für astrophile Mitmenschen bedeutet es VLT, A.L.M.A., LSST, CTIO, APEX, TAO, Oktans, Kreuz des Südens, Carina-Nebel … und vor allem CLEAR SKIES.

Lutz Dörpmund – 20180713_222818 PAN_2333_stitch

Auf unserer Sternentour mit Besuchen einiger ESO-Standorte, aber auch des CTIO nahe La Serena in der Region Coquimbo und ganz besonders auch einiger kleiner Observatorien, sowohl als Gemeindeprojekt als auch in privaten Händen (manchmal auch eine Kombination aus beiden), erkannten wir die Komplexität und das Miteinander in einem Land, dessen wirtschaftliches Hauptinteresse der Abbau der Bodenschätze ist. Aber auch der Ökotourismus ist eine der Einkunftsquellen. Hierbei spielt die Astronomie eine immer größere Rolle. Die Attraktivität dieses Zweiges der chilenischen Wirtschaft wächst und gewinnt auch bei den Chilenen immer mehr an Zustimmung.

Dieses chilenische Tagebuch wird einige Impressionen vermitteln, die oben Genanntes widerspiegeln. Wir hatten das große Glück, Interviews mit Astronomen unterschiedlich großer Observatorien führen zu dürfen, die uns in ihre Arbeit hineinblicken ließen. Aber gleichzeitig handelt es sich um Portraits von Menschen, die von und mit der Astronomie leben. Ihr Enthusiasmus vor allem bei den Chilenen das Bewusstsein zu schärfen, dass der sternenklare Himmel zum nationalen Kulturgut Chiles gehört und schützenswert ist, ist beeindruckend. Somit steht die Lichtverschmutzung an oberster Stelle. Wir erfuhren außerdem viel über die Themen Bergbau, Wachstum der urbanen Zentren und auch wie der Massentourismus ihre Arbeit beeinflusst und viele kleine Anekdoten, die sich um die Astronomie drehen.

Wir sprachen mit Dr. Malcolm Smith vom Cerro Tololo Inter-American Observatory im Headquarter in La Serena, Alain Maury auf SPACE nahe San Pedro de Atacama und Diego und Marcelo Berenguer vom Observatorium Cancana in Cochiguaz, im Valle del Elquí. Astronomische Observatorien scheinen wie Pilze aus dem chilenischen Boden zu schießen. Die Erde in der Atacama mag, laut Alain Maury, nicht gut für das Wachstum von Bäumen sein, besonders seines Pfefferbaumes, aber sie ist es für Teleskopanlagen.

Nördlich des lichtverschmutzten Großraums Santiago befinden sich Observatorien, die ‚cutting-edge astronomy‘ betreiben, wie z. B. die der ESO. Aber es gibt auch von Gemeinden geführte Observatorien wie z. B. Cruz del Sur, Collowara oder Mamalluca (alle drei in der Sternenregion – la región estrella – Coquimbo), die, wie bereits oben erwähnt, Chiles nationales Kulturgut hegen und pflegen. Die mittlerweile zahlreichen privaten Observatorien sind zwischen dem Streben das nationale Kulturgut zu schützen, die chilenische Bevölkerung für die Astronomie zu sensibilisieren und dem Ausschöpfen einer lukrativen Einnahmequelle anzusiedeln.

Die Karte soll einen Einblick in diese ‚Teleskoplandschaft‘ vermitteln. Sie wurde von uns mittels vielerlei Recherche (Internet, Straßenkarten, Flyer und ‚zufällig-im-Vorbeifahren-entdecken‘) erstellt, erhebt aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Kategorien der Observatorien

Gemeinde

private

Wissenschaftliche

Wissenschaftliche in Planung / Bau

Sehen wir uns diese Teleskoplandschaft genauer an, erkennen wir, dass sich eine Art Epizentrum im Raum Coquimbo-La Serena (La Serena ist die zweitälteste Stadt Chiles) befindet. Hier gibt es aus jeder der o. g. Kategorien Observatorien. Viele wurden bereits in den 1960er gebaut (Las Campanas, La Silla, CTIO). Genauso finden wir hier in Chile sehr bekannte Observatorien, die von den Gemeinden etabliert wurden (Mamalluca, Cerro Mayú, Collowara und Cruz del Sur) und auch private, wie z. B. Elquí Domos (Hotelanlage mit Möglichkeiten Astrofotografie zu betreiben), Hacienda Los Andes (Teleskopanlage und Trekkingtourismus unter deutschsprachiger Leitung), Cancana (Astrotouren und spirituell geprägter Ökotourismus unter der Leitung von Marcelo und Diego Berenguer) oder El Pangue (von vielen Chilenen hochgelobt, weil dort studierte Astronomen arbeiten).

Den Grund für diese Anhäufung an astronomischen Anlagen in Chile fasste Felipe Campos 2013 im ersten Absatz seines Artikels ‚Seminario internacio​nal sobre la Protección del Cielo Nocturno del Norte de Chile en Enjoy de Coquimbo‘ [Internationales Seminar zum Schutz des nördlichen chilenischen Nachthimmels in ‚Enjoy de Coquimbo‘], in der Zeitschrift ‚Cosmo Noticias‘ wie folgt zusammen:

‚Chile ist das Zentrum der weltweiten Astronomie. Der Norden unseres Landes bietet außergewöhnliche Bedingungen für diese wissenschaftliche Disziplin; es verfügt über eine der trockensten Wüsten der Welt, eine Atmosphäre, die ein exzellentes Seeing ermöglicht, wolkenlose Nächte und eine geringe Bevölkerungsdichte (…). Dies verwandelt (den Norden Chiles, Anm. d. Verf.) in den perfekten Ort für den Bau großer astronomischer Anlagen. Das Niveau der begrenzten Lichtverschmutzung aufrecht zu erhalten ist eine bedeutende Herausforderung. In dem vor einigen Jahren veröffentlichten ersten “Atlas mundial de luminosidad nocturna artificial” [‘World Atlas of the Artificial Night Sky Brightness’, Anm. d. Verf.] kommt man zu dem Schluss, dass die Hälfte der Europäer und ein Drittel der Nordamerikaner die Milchstraße aufgrund des hohen Grades an Lichtverschmutzung nicht mehr sehen können. Das beeinträchtigt nicht nur die astronomische Beobachtung: es beinhaltet gleichsam Energieverschwendung und gefährdet die Gesundheit der Menschen und der Ökosysteme.‘ [Übersetzung der Verfasserin]

Quelle: cosmonoticias.org (Posted on 8 octubre, 2013 por Felipe Campos)

Fahren wir auf der Karte einige Hundert Kilometer weiter in den Norden, sehen wir zwischen Chañaral und Antofagasta das VLT auf dem Cerro Paranal und das sich im Bau befindende ELT fast gegenüberliegend auf dem Cerro Armazones. Obwohl sich die Namensgeber keiner großen kreativen Schöpferkraft rühmen können (Very Large Telescope und Extremely Large Telescope), so haben sich die Ingenieure und Planer dieser stellaren Beobachtungsmaschinen ihren Platz in den ersten Rängen der Astrophysik und der Astronomie sehr wohl verdient.

Das Areal zeichnet sich durch äußerste Trockenheit aus. Uns wurde gesagt, dass die Luftfeuchtigkeit manchmal sogar nur 2% betragen kann. Trinkwasser wird jeden Tag in mehreren Tanklastwagen aus Antofagasta geliefert. Dies sind äußerst gute Bedingungen, um astronomische Beobachtungen durchzuführen, denn hier gibt es keine Siedlungen, ergo auch keine Lichtverschmutzung, und auf ca. 2600m ü.N.N. sind die atmosphärischen Störungen gering. Mittels des Narrow-Field-Modus der Adaptiven Optik des MUSE/GALACSI-Instruments am VLT (auch als Lasertomografie bezeichnet) können z. B. bessere Ergebnisse erzielt werden, als mit dem Hubble-Teleskop.

Taltal und Antofagasta sind die zwei nächstgelegenen Orte, von denen aus das ELT und VLT erreichbar sind. Die Fahrzeit beträgt je nach Zustand der schlaglochverzierten B-710 ca. 1½ Stunden. Es mutet schon eigenartig an, dass in einem der wasserärmsten Areale unseres Heimatplaneten nach Wasser auf Exoplaneten gesucht wird.

Reisen wir weiter in den Norden in Richtung des Dreiländerecks Chile, Argentinien und Bolivien sehen wir eine erneute Anhäufung astronomischer Anlagen. Jetzt befinden wir uns am Fuß der Anden ganz in der Nähe des Touristenmekkas San Pedro de Atacama (manchmal auch schelmisch ‚San Perro‘ genannt aufgrund der vielen Hunde).

A.L.M.A. (Radioteleskopfeld auf dem Chajnantorplateau auf ca. 5.000m ü.N.N.) und TAO (das höchstgelegene optische Teleskop auf fast 5.500m ü.N.N.) sind die bekanntesten Anlagen. Hier befinden sich die weitläufigen Salares und die Lithiumabbaugebiete als auch Chuquicamata, eine der größten Kupferminen der Welt, einhergehend mit einem ökologischem Katastrophenszenario (der Río Loa ist weitesgehend verseucht und erreicht kaum noch den Pazifik und der Grundwasserspiegel in den Salares, gespeist durch noch nicht ausreichend erforschte Aquiferen und aus fossilem Grundwasser bestehend, sinkt Jahr für Jahr dramatisch).

Die OSF (im Quadrat) und das Radioteleskopfeld (gelb umkreist)

Sehen wir uns zum Abschluss den Großraum Santiago an, so finden wir auch dort kleinere private Anlagen. Südlich befinden sich z. B. Tagua Tagua, Yepun und Orión. Die Qualität der visuellen Beobachtungsergebnisse entzieht sich unseren Kenntnissen, weil wir sie nicht besuchten. Doch z. B. ein Blick vom größten Skyscraper Santiagos, dem höchsten Gebäude Südamerikas: Sky Costanera, schenkt uns einen guten Eindruck über den hohen Grad an Luft- und Lichtverschmutzung. Dieses wird auch durch einen Blick auf die Light Pollution Map schnell deutlich.

Den ersten Teil des chilenischen Sternentagebuchs widmen wir allerdings der ersten großen Hürde in der Astrofotografie auf der südlichen Hemisphäre (gerade auch bei Anfängern in dieser Disziplin, also Lutz und mir): dem Oktans (Sigma Oktantis oder auch Polaris Australis). Die ständig aufkeimende Frage lautet: Wo um Himmels Willen ist er?

Im Netz finden sich einige Tipps und ‚How to‘ Publikationen, doch wenn die Kamera auf dem Stativ steht, die Montierung sitzt und eingesüdet werden soll, geht das große Rätselraten los. Was in den Tutorials so leicht und logisch erscheint und auf den Abbildungen und Fotos deutlich erkennbar ist, wird durch die schiere Unmenge an Sternen fast unmöglich. Sehen wir uns Stellarium an, dann findet er sich schnell. Man nehme Rigil Kentaurus und Hadar und fälle das Lot (erster Schritt), dann gehe man zum Kreuz des Südens und ziehe von Gacrux zu Acrux eine gedachte Linie, verlängere sie ca 4,5mal (zweiter Schritt) und voilá: wir sind beim südlichen Himmelspol, ein Ort an dem uns gähnende Leere erwartet.

Besonders schwierig wird das Auffinden in gebirgigem Gelände, z. B. in Cancana im Valle del Elquí. Hier steht das Observatorium von Marcelo und Diego Berenguer. Im Juli, also im chilenischen Winter, konnten wir Rigil Kentaurus, Hadar und das Kreuz des Südens bereits am klaren Himmel sehen, obwohl es gerade erst anfing zu dämmern (ca. 18:30h). Gespannt warteten wir am ersten Abend auf die Dunkelwolken des Vicuña, des Kohlensacks und o. g. Konstellationen. Wir wussten genau , wo er zu finden ist. In etlichen Dokumentationen der ESO, aus der Reihe ‚Zwischen Himmel und Erde‘ von Serge Brunier hatten wir per Videostop den Oktans sofort identifiziert. Vier Sterne bilden ein Trapez (Er sieht aus, wie ein kleiner Topf). Der Abstand zwischen den Sternen in der oberen Öffnung ist ein wenig größer als zwischen den zwei Sternen des ‚Bodens‘. Der geöffnete ‚Topf‘ verläuft fast parallel zur Milchstraße. Der rechte Stern im Boden hat zwei kleine Begleitsterne und die drei bilden eine Linie. Hier sind wir im Reich des Polaris Australis.

Doch als die Dunkelheit einsetzte, war vor lauter Sternen nichts mehr zu erkennen. Die Strophe des Kinderliedes ‚Weißt du wieviel Sternlein stehen‘ macht dort einfach keinen Sinn mehr. Passender ist schon: ‚there‘s more stars than sky‘. In Ermangelung eines Fernglases wandten wir uns hilfesuchend an Diego, der uns seinen Cancanatrick für den Juli erläuterte: der Oktans steht oberhalb einer Kerbe in der Bergkuppe. Da sollten wir ihn suchen. Nun hat die Olympus OM-D E-M5 Mark II ein äußerst gutes live view. Wir setzten sie auf ein Stativ und sondierten die genannte Region, allerdings in einer unscharfen Fokussierung. Die Sterne waren ein wenig ‚geblurt‘. Und dann war das Trapez schemenhaft zu sehen. Lutz visierte die Stelle mit seinem grünen Laser an. Seine Lumix G9 saß bereits auf der Montierung (iOptron), die nun ausgerichtet werden konnte. Dasselbe Manöver führten wir für die Olympus durch.

Das Auffinden des Oktans in Cancana wurde dadurch erschwert, dass Cancana in einem Tal liegt und die Sicht auf die kleine magellanische Wolke (SMC) im Juli versperrt ist. Der Weg über die SMC ist unseres Erachtens deutlich einfacher. Sieht man sich die Region genauer an, befinden sich zwischen dem Kreuz des Südens und der kleinen magellanischen Wolke einige auffällige Sternengruppierungen. Von der SMC ausgehend ist Beta Hydrae (β Hydrae) recht unproblematisch zu erkennen (mit Blickrichtung zum Kreuz des Südens). Fast dieselbe Strecke weitergehend befinden sich Gamma Octantis 1, 2 und 3 (γ Oct). Dieselbe Strecke nochmals verlängert befindet sich Polaris Australis.

Selbstverständlich ist eine exakte Ausrichtung nicht immer erfolgreich, weil in dem o. g. Bereich auch ein wenig geschätzt werden muss, denn um Sigma Oktantis herum bzw der Bereich des südlichen Himmelspols ist eine Dunkelzone. Auf jeden Fall ist es hilfreich, wenn in dem Polsucher die Positionen der vier Sterne des Oktans (des Topfes) als Gravur markiert sind. Dann braucht der/die Oktanssuchende ‚nur‘, entsprechend Datum und Uhrzeit, diese Gravur in die richtige Position drehen, um dann wiederum die vier Sterne mit dieser Gravur in Deckung zu bringen. So kann man recht sicher sein, dass die Einsüdung wirklich klappt. Und wenn dann doch alles schiefgeht, hilft nur noch eins: Pisco Sour.

Fotos, fachwissenschaftliche Beratung und Redaktion: Lutz J. Dörpmund Konzeption, Durchführung und Auswertung des Interviews, Übersetzungen aus dem Spanischen und Englischen, Fotos: Karin Cornelia Dörpmund

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